Am Montagmorgen erhob ich mich erschöpft aus schweißgetränkten Laken, aber erholt und wie ich glaubte, wieder stark genug, um zu leben und mich von dem gebrochenen Herzen und den Gefühlen nicht noch weiter zerstören zu lassen. Halb taumelnd, halb kriechend zwang ich mich auf das Kommando des Weckers aus dem Bett und ins Badezimmer. Ich sah fürchterlich im Spiegel aus. Meine Augen versanken in dunklen, konzentrischen Kreisen. Meine Wangen waren eingefallen und von Stoppeln, roten Schwellungen und frischen Pickeln überzogen.
Ich duschte kalt, rasierte mich, schlüpfte in ein weißes Hemd und frische Jeans und ging zur Arbeit.
Das Büro der Marketingagentur PoliPR, für die ich damals arbeitete, war von meiner Wohnung keine zwei Kilometer zu Fuß entfernt. Der Weg erschien mir an dem Tag jedoch unerträglich lang und laut, das Tageslicht viel zu grell. Ich ging wie in Trance, nur einmal schreckte ich kurz auf, als ich fast über einen der vielen Obdachlosen stolperte, der zusammen mit paar anderen im Eingang eines geschlossenen Geschäfts schlief. Er säuselte schlaftrunken etwas Unverständliches und warf mit einer Wodkaflasche, der ich fluchend auswich. Sie zersprang auf der Straße.
Während ich mit schnellen Schritten weiterging, hatte ich den ersten halbwegs positiven Gedanken seit der Trennung: Zumindest habe ich mit dem Job Glück und mehr als genug Geld und es geht mir nicht so wie diesen Pennern. Es war ein widerlicher Gedanke voller speiendem Ekel und Verachtung, aber dieses empathielose Überlegenheitsgefühl gab mir für einen Augenblick einen kurzen Energiekick.
Und ich hatte tatsächlich Glück.
Seitdem vier Jahre zuvor durch die Pandemie, die Weltwirtschaftskrise und die platzenden Immobilienblasen China die ganze Welt mit sich in den ökonomischen Abgrund gerissen hatte, war selbst München voller geschlossener Geschäfte und Landstreichern, die durch ganz Europa wanderten auf der Suche nach Arbeit oder zumindest intakter Sozialhilfe. Mit dem Kollaps der Wirtschaft, war auch der Staat in die Knie gegangen und die Menschen riefen verzweifelt nach seiner Hilfe, doch er antwortete immer seltener. Die Krisen hatten den Menschen offenbart, dass alle sozialen und wirtschaftlichen Probleme am Ende staatliche Probleme waren.
Damit wurden auch jeden Tag die Forderungen lauter nach dem Staat und starken Politikern, die mit ihrem Willen das Ruder an sich reißen und die Massen durch das Chaos führen konnten.
Doch in unseren westlichen, verkommenen Demokratien hatten wir keine starken Politiker mehr, nur hysterische Ideologen, vegetierende, visionslose Bürokraten und alte liberale Wirrköpfe, die nur hohle Phrasen von sich gaben und Intrigen schmiedeten, um die eigenen Taschen zu füllen. Von dem, was die neoliberalen Hyänen und die chinesischen Agenten von den Staaten Europas an sich übriggelassen hatten, konnte man ebenso wenig Hilfe erwarten.
Und so zerfiel alles. Es war eine Zeit der Veränderung und niemand wusste, wohin die Reise gehen würde, nur, dass es unmöglich so weitergehen konnte.
Diese desolate Lage Europas stand damit auf den ersten Blick in einem extremen Kontrast zu meinem Leben. Während die Arbeitslosenzahlen immer weiter stiegen und in den Arbeitsämtern Massenschlägereien ausbrachen, hatte ich sogar erst vor zwei Wochen eine Gehaltserhöhung erhalten.
Mochten die Kassen für Sozialhilfe und Investitionen leer sein, die Politiker überschütteten uns PR-Leute eimerweise mit ihrem frischgedruckten Geld, damit wir die Krisen herunterspielten, das Versagen des Systems vertuschten und ihre Umfragewerte sicherten. Vor allem jetzt, wo nach dem Bruch der Grün-Schwarzen-Koalition schon wieder Neuwahlen anstanden. Die dritten in zwei Jahren.
Im Vergleich zum Großteil der Menschen, ging es mir auf dem Papier trotz Liebeskummer verdammt gut, versuchte ich mir selbst zu versichern, während ich die Sicherheitskontrolle in der Lobby des Bürogebäudes passierte. Ein Angestellter einer privaten Sicherheitsfirma, der eine Pistole im Holster und eine Schutzmaske über dem Gesicht trug, nahm mit einem Laserthermometer meine Temperatur und prüfte meinen Angestelltenausweis, dann winkte er mich durch.
Doch auch wenn das Thermometer nicht warnend piepte und das Papier mir eine ausgezeichnete Verfassung bescheinigte, fühlte ich mich krank ... so krank wie Europa, so krank und ohne Ideen wie es weitergehen sollte, wie Deutschland.
ImAufzug lehnte ich mich an die Wand und seufzte erschöpft, bis die stählerne Türvor mir wieder aufglitt.
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Der Faschist
Ficción GeneralEs ist das Jahr 2024. Die Coronapandemie ist vorbei, doch die Wirtschaft ist zusammengebrochen. Durch die Hauptstädte Europas ziehen Heerscharen an desillusionierten Arbeitslosen und entladen ihre Wut und Verzweiflung in zunehmend gewalttätigen Auss...