Straßenbahnen

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 7 Uhr, grade noch den letzten Platz erwischt. Der Mann gegenüber nickt mir freundlich zu, ich ihm zurück. Geschäftsmann vermutlich. Ordentlich gekleidet, mit Krawatte und Anzug und auf dem Schoß seine Aktentasche - vermutlich in Leder.
Der Herr kommt mir sympathisch rüber. Womöglich Ende 30 und Vater, der seiner Familie mit einem wohlhabenden Job ein schönes Leben schenken will.
Es steigen Leute aus, es steigen Leute ein.

 
Eine Frau, die mit ihrem Kaffee in der Hand grade noch so in die Bahn rennt. Ihre blonden, schulterlangen Haare etwas nass vom Regen, der sie überrascht hatte, denn einen Regenschirm hat sie nicht bei sich. Sie versucht sich aber mithilfe ihres Leitz-Ordners Schutz zu verschaffen. Ich kann beobachten, dass sie leise vor sich hin flucht. Nicht nur, dass sie nun halb nass ist und ihr bei dieser Last-Minute Aktion noch der Kaffe den Abgang machte - nein, sie darf sich nun auch noch eine beliebige Stange aussuchen, an der sich wahrscheinlich mehr Mikrolebewesen tummeln als auf einer öffentlichen Toilette.
In der einen Hand, immer noch der Kaffee, unter die Schulter der Ordner geklemmt und mit der anderen Hand der Griff an die Stange. et voilà - eine genervte Studentin.
Es steigen Leute aus, es steigen Leute ein.

Ein älterer Herr, wackelig auf den Beinen nimmt den ihm angebotenen Platz an und lässt sich nieder. Sein Blick ist leer. Viel erlebt hat er und bestimmt viel durchgemacht. Sicher auch Opa von wissensdurstigen Kindern.
Seine Frau vielleicht krank, oder bereits verstorben oder nur zuhause und kümmert sich um den Haushalt. In diese Leere kann man nicht hineinschauen. Mit solchen Leuten würde ich so gerne reden, über Gott und die Welt. Aber eins der schlechtesten Orte, die mir dazu einfallen, sind Straßenbahnen. Ein leiser Seufzer verlässt ihn und er lächelt müde.
Leute steigen Leute aus, Leute steigen ein.

Gedanken eines VieldenkersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt