Jane
„Wollen wir los?", Sybil stand im Flur, die Haustürschlüssel gezückt. Wir waren nach unserem Besuch im Héloise zu Sybil nach Hause gegangen, um uns frisch zu machen und umzuziehen. Ich hatte mir von Zuhause eine zerschlissene 80er Jahre Jeans mitgenommen, die selbst mir zu weit war, darüber trug ich ein langärmliges, schwarz-weiß gestreiftes Shirt, das ich mir in die Hose gesteckt hatte, unter der Jeans eine Netzstrumpfhose, die man an den Oberschenkeln und an den Knöcheln sehen konnte, darüber eine weite, schwarze Jeansjacke, die mir fast von den Schultern rutschte und dazu meine gelben Sneaker. Meine Haare hatte ich zu zwei kleinen Dutts auf der hinteren Oberseite meines Kopfes gewickelt.
„Willst du keine Jacke mitnehmen?", fragte ich meine beste Freundin, doch diese schüttelte nur den Kopf.
„Es ist nicht weit von hier."
„Okay", ich steckte mein Handy in die Hosentasche und folgte ihr nach draußen. Es war ziemlich kalt, nachdem die Sonne jegliche Wärme mit sich genommen hatte. Die Laternen in Londons Stadt warfen ein teils warm-weißes teils grelles Licht auf die mit großen Steinen gepflasterten Straßen. Die Fassaden der Geschäfte und darüber liegenden Wohnungen und Apartments wechselten sich mit altmodischem und modernen Stil ab und machten den nächtlichen Anblick umso interessanter.
„Aufgeregt?"
„Ein bisschen", gab ich zu.
„Keine Sorge, ich kenne den Gastgeber recht gut", Sybil hakte sich erneut bei mir ein und hüpfte fast schon durch die Stadt.Irgendwann hielt sie an und klingelte bei einer Wohnung Sturm. Die Tür ging keine zwei Sekunden später auf und ein schon ziemlich ausrangierter Kerl stand dort. Hinter ihm erstreckte sich ein schier unendlich langer, schmaler Flur mit Betonwänden, an dessen Ende eine alte Holztreppe war.
„Hallo Ladies", lallte der Typ, doch ich ging einfach an ihm vorbei und nahm Sybil mit mir mit. Im Flur standen noch ungefähr sieben andere Gäste herum, die entweder mit Übelkeit rangen oder sich gegenseitig die Zunge in die Hälse steckten. Ein Mädchen saß gegen die Wand gelehnt und schaute mit verheulten Augen auf ihr Smartphone, während wir vorsichtig über sie hinüber steigen mussten.
„Zwei Stockwerke nach oben", wies Sybil an und ich lief vor ihr die ebenso schmale Treppe hinauf. Vor der Wohnungstür standen nochmal um die zehn Menschen, alle einen roten Plastikbecher in der Hand und mit glücklichen Gesichtern. Wir gingen an ihnen vorbei und betraten die recht kleinen Räumlichkeiten. Die Einrichtung konnte ich weder genau betrachten, noch bewerten, denn überall waren Menschen, die uns mit neugierigen Blicken musterten. Genau genommen sahen sie nicht mich, sondern Sybil an, die in ihrem royal-blauen Jumpsuit, mit kurzen Ärmeln, Carmen-Ausschnitt, die schlanke Taille und langen Beine betonend, durch den Flur spazierte. Sie bemerkte nicht einmal, dass sich alle nach ihr umdrehten, aber ich bemerkte es und es gab mir die Möglichkeit die anderen anzusehen, ohne, dass sie es mitbekamen. Es waren einige sehr schick angezogene Mädchen hier und ein paar Jungen, die aber alle nicht wirklich mein Fall waren.„Hier ist der Mann der Stunde", Sybil umarmte einen Jungen in unserem Alter. Er war groß, hatte strohblonde Haare und kokosnuss-braunen Augen, er wirkte athletisch und trug ein nicht vollständig zugeknöpftes ebenfalls dunkelblaues Hemd und eine schwarze Hose.
„Alles Gute", Sybil drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
„Danke", er legte einen Arm um sie und betrachtete sie eingehend,"du siehst toll aus. Bist du etwa geschminkt?!"
„Jane hier hat mich ein bisschen zurecht gemacht", sie zeigte auf mich und ich lächelte kurz.
„Hi", der junge Mann hielt mir die Hand zur Begrüßung hin und ich schüttelte sie leicht,"ich bin Christian, kannst mich aber auch Chris nennen."
„Bist du nicht langsam zu alt für diesen Spitznamen?", ärgerte ihn Sybil und er verzog das Gesicht.
„Ich bin 21!" Ich wusste nicht, woher die beiden sich kannten, aber sie passten gut zusammen. Ich sollte Sybil bei Gelegenheit einmal fragen, ob sie für ihn schwärmte.
„Wir haben uns auf dem Abschlussball damals leider verpasst", Christian lächelte mich entschuldigend an, aber ich störte mich nicht daran. Der Abschlussball war ein recht interessanter Abend gewesen, aber ich bereute nichts, was geschehen war.„Hey! Simon! Komm mal her!", Chris winkte im nächsten Moment jemanden zu uns hinüber.
„Jane", er zeigte auf die Person, die neben ihm zum Stehen kam. "Das ist Simon. Sybil hat dir von ihm erzählt, oder?"
„Simon, du Stümper. Wir haben uns ewig nicht gesehen", Sybil lachte und zwinkerte dem Freund zu, der sie schüchtern anlächelte.
„Simon, das ist Sybils Freundin Jane", erklärte Chris dann und nickte mir zu. Jetzt erst schaute ich für einen längeren Augenblick zu Chris' Freund hinüber.Er hatte ein südländisches Aussehen, mit großen dunkelbraunen Augen, schwarzen Haaren, leicht dunkelfarbiger Haut und ein schiefes Grinsen. Er trug drei-tage-Bart, ein schwarzes T-Shirt und ebenfalls schwarze Jeans, ein dünnes, silbernes Armband und jeweils zwei silberne Ringe an den Händen.
„Schön, deine Bekanntschaft zu machen", er hielt mir die Hand hin, die ich vorsichtig schüttelte. Ich traute mich, ihm nur kurz in die Augen zu schauen, wandte meinen Blick dann aber leicht panisch wieder zur Seite, um zu vermeiden, dass sich unsere Blicke trafen. Simon lachte leise, aber das bekam nur ich mit, denn Sybil und Chris waren schon wieder mit sich beschäftigt.
Ich bemerkte aus dem Augenwinkel, wie Simon mich nach wie vor amüsiert betrachtete und seinen Blick von Kopf bis Fuß an mir entlang fuhr. Nicht abschätzig, nicht von oben herab oder verurteilend. Meine Wangen wurden heiß.
„Entschuldige mich bitte einen kleinen Augenblick", Simon schob mich vorsichtig an der Schulter zur Seite und verschwand im Flur. Mein Gott war er gutaussehend.
„Bier?", Sybil hielt mir einen Becher hin, den sie von einem anderen Kerl bekommen hatte. Ich nahm es dankend entgegen und leerte den Inhalt in einem Zug.„Rauchst du, Jane?", Chris nahm mich und Sybil mit zur Küche, in der sich alle Raucher versammelten. Durch die geöffneten Fenster hätte es eiskalt sein müssen, aber durch die Leute und den dichten Qualm merkte man es gar nicht.
„Ja, aber ich versuche aufzuhören", sagte ich und nahm die Zigarette, die er mir anbot, entgegen. Sybil schaute mich böse von der Seite an, während ich sie mir ansteckte.
„Was?", ich nahm einen tiefen Zug und schloss für einen Moment die Augen.
„Das ist ungesund!"
„Ich weiß", ich nahm gleich noch einen Zug, und hielt die Kippe aus Sybils Reichweite, damit sie sie mir nicht wegnahm. "Ich hab vor ein paar Monaten wieder angefangen."
„Wieso denn?" In Sybils Stimme lag Besorgnis.
„Wieso denn nicht?", ich verschränkte die Arme. "Spielt es eine Rolle, ob ich nun rauche oder nicht? Wenn ich krank werde, werde ich eben krank."
„Ich komme nicht zur Beerdigung", Sybil nahm beleidigt einen Schluck Bier.
„Gibt ja auch keine", ich schaute aus dem Fenster und sah London in einem wunderschönen Licht.„Ich gucke mal eben, ob ich hier noch andere Leute kenne", Sybil legte mir kurz eine Hand auf den Unterarm und drückte sich dann an mir vorbei. Chris lief ihr wie ein kleines Hündchen nach.
Ich steckte mir die Zigarette in den Mund und presste die Lippen zusammen, während ich mir Bier in meinen leeren Plastikbecher kippte.
„Haben sie dich stehen gelassen?" Ich drehte mich rasch um und nahm meine Kippe aus dem Mund.
„Du rauchst?" Simon stand vor mir und schien etwas überrascht. Meinen ersten Eindruck hatte ich definitiv nicht auf positive Weise hinterlassen. Bestimmt hasste er Mädchen, die rauchten. Ich konnte es ihm nicht einmal verübeln.
„Hast du nicht erwartet, was?", erwiderte ich kurz angebunden und nahm einen Schluck Bier, als ich mich gegen die Arbeitsfläche lehnte.
„Ehrlich gesagt, nein", Simon nahm sie mir mit einer raschen Bewegung aus der Hand und zog kräftig daran. "Aber ich liebe Überraschungen."
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Augen;Blicke
Romance"Those who are hardest to love, need it the most" - Socrates ____________________ Es war nicht direkt Unzufriedenheit, die Jane an sich und ihrem Leben zweifeln ließ. Viel mehr fühlte sie sich, als würde sie nicht gesehen, nicht von ihrem Umfeld wah...