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Jocelyn

Verflucht, was mache ich hier? Eigentlich sollte ich Ethans Worten genau zuhören und mir wie sonst Notizen in mein kleines Heft, das in meiner hinteren Hosentasche steckt, machen. Leider bin ich viel zu abgelenkt von seinen muskulösen Armen, die auf dieses und jenes zeigen. Oder den haselnussbraunen Augen, die umwerfend zu den blonden Haaren und dem dunkelblonden Bart passen. Jetzt im sonnigen Tageslicht, sieht mein neuer Nachbar noch besser aus, als im Schatten des Waldes. Es wundert mich nicht mehr, wieso Peppers zu ihm gelaufen kam und sich auf seinen Schoß setzen wollte. Denn es ist nicht nur sein Aussehen, das meine Haut kribbeln lässt, sondern seine offene, freundliche Art. Das sind Empfindungen, die er beim Reden vermittelt. Man fühlt sich bei ihm auf der Stelle wohl und gut aufgehoben. Ein Gefühl, das mir ziemlich fremd ist, außer ich bin mit Peppers in meinem Haus, das ich selbst gestaltet habe. Mein eigener Rückzugsbereich. Überall sonst fühle ich mich wie ein Freak, wie ein Alien, der nicht weiß, wie man sich richtig verhält. Ich denke aber, das ist nun einmal so, wenn man jegliche Erinnerungen verloren hat, die älter als vier Jahre sind. Wie auch meine Träume, ist meine Vergangenheit ein dunkles, schwarzes Loch. In meiner Welt existieren keine Familienmitglieder, kein Partner oder langjährige Freunde. Kein Wunder also, wenn die eigene Sozialkompetenz einen kleinen Sprung hat, wie eine herabgefallene Vase.

Daher ist es umso verwunderlicher, bei Ethan nicht sofort Reißaus nehmen zu wollen. In der Zwischenzeit haben wir alles geklärt, was die Bezahlung und die Stunden betrifft. Ethan hat sogar angeboten, mich kurzzeitig bei seiner Firma anzumelden, damit ich eine Versicherung habe. Was meine Augen natürlich leuchten ließ. Zwar brauche ich nicht viel und habe wenige Ausgaben, jedoch habe ich auch für Notfälle fast nichts angespart. Das einmalige Sozialgeld, das ich nach Verlassen des Krankenhauses von einer Angestellten des Vereins Familienberatung in Krisenzeiten bekommen habe, ist für das Haus und die Renovierung komplett draufgegangen.

Anschließend sind wir oben auf den Dachboden geklettert, haben uns die besagten Schimmelstellen angesehen, und sind wieder heruntergekommen. Wir stehen nun vor der Palette mit den Dachziegeln und den zwei weiteren für die Dämmung. Wieder zuckt sein rechter Arm auf nach vorne und ich beiße mir auf die Unterlippe, um nicht auf die Muskelstränge zu starren. Ich bin zum Arbeiten hier. Reines Arbeiten, mehr nicht.

„Jedenfalls, wenn das für dich in Ordnung ist, kannst du bereits mit der Innendämmung anfangen und ich beginne mit dem Tausch der Dachziegel."

Bevor ich antworten kann, läuft mein neuer Auftraggeber zu seinem Truck, holt etwas raus und kommt zu mir zurückgelaufen. Er hält einen kleinen, weißen Gegenstand in den Händen. „Hier, ich habe leider bisher nur eine Maske, aber du kannst diese haben, bis ich eine zweite besorgt habe. Ich wusste nicht, dass du kommst und ob wir dann gleich starten würden."

Wenn ich es nicht besser wüsste, nähme ich an, dass er mir absichtlich die leichtere Arbeit gibt. Dadurch fühle ich mich gleichzeitig beschämt, aber auch gerührt. Man wird zwar viel staubiger und hat die kleinen Fasern der Dämmung anschließend überall unter den Klamotten, aber ich bin kein schwaches Mädchen, das kein Dach flicken kann. „Nicht notwendig. Wir können beide am Dach arbeiten und anschließend drinnen."

Er macht bereits den Mund auf, um zu widersprechen, daher fahre ich fort und zeige mit einer Hand in den Himmel. „Regen."

Schnappend wie ein Fisch auf dem Trockenen lässt er den Mund wieder zuklappen und ich verschlucke mich an einem kleinen Lächeln. „Keine Angst, ich habe keine Höhenangst. Wenn es dir leichter fällt, darfst du auch die Mehrheit an Ziegel hochtragen und ich sichere meinen Hintern mit einem Gurt und Seil."

Scheiße, was war das denn eben? Hastig wende ich mich ab und laufe zurück zu meinem Haus, um den Sicherheitsgurt zu holen. Dabei kann ich seinen Blick heiß wie eine Berührung spüren und ich fürchte, mein blöder Kommentar hat ihn geradewegs dazu gebracht, auf besagtes Körperteil zu starren. Bevor ich außer Sichtweite bin, ruft er mir hinterher: „Na schön, einverstanden. Wenn du magst, kannst du deinen Hund mitnehmen. Dann ist er nicht den ganzen Tag allein."

Beinahe stolpere ich über meine langen Beine, gehe aber rasch weiter. Das ist neu. Nur selten nehme ich Peppers mit und jedes Mal, wenn ich nach einem Tag Arbeit nach Hause komme ist sie furchtbar anhänglich, als hätte sie Angst gehabt, ich würde nicht wiederkommen. Ich vermute, das ist ihr aus den Jahren im Tierheim hängen geblieben – die Angst verlassen zu werden. Dieses Gefühl kenne ich, deswegen ist sein Angebot umso schöner. Peppers wird es durch Ethans Angebot in den nächsten Wochen nicht empfinden müssen. Das ist natürlich der einzige Grund für meine Aufregung, als ich mich auf den Weg zurück zu meinem zukünftigen Auftraggeber mache. Alles andere ist zu abwegig. Ich interessiere mich selten für Männer. Die meisten wollen nur das eine und wenn sie es nicht bekommen, sind sie schneller weg, als man bis zehn zählen kann. Oder wenn sie erfahren, dass mit meinem Kopf etwas nicht stimmt. Welcher normale Mensch verliert sein Gedächtnis und findet keine Familie, die nach ihm sucht? Wer will mit so jemanden zusammen sein? Vielleicht war ich eine Verbrecherin (obwohl, das kann ich ausschließen, sonst wären meine Fingerabdrücke in den Datenbanken, außer ich war so gut und wurde nie erwischt) oder habe wer weiß was angestellt. Wer ist man, wenn man es selbst nicht weiß, wenn es keine Vergangenheit gibt? Machen uns nicht gerade unsere Erfahrungen, besondere Erinnerungen zu den Menschen, die wir sind? Und was ist, wenn diese fehlen? Dann ist mehr verloren als bloße Rückblenden auf das eigene Leben. Es hängt das Gefühl eines dunklen Loches über einen, das einen jeden Tag zu verschlingen droht.


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Where We Got LostWo Geschichten leben. Entdecke jetzt