Gefangen im Weiß

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Er steht vor der leeren Leinwand. Die raue Struktur der Oberfläche, die einfarbige Ödnis, die stummen Augen der Erwartung - die leblose Fläche scheint ihn zu verhöhnen.

Mit wilder Entschlossenheit nimmt er den Pinsel, taucht ihn in die Farbe:

ein tiefes, lebendiges Blutrot.

Er lässt die feinen Härchen über die Leinwand streichen.

Eine Linie. Mit ihr beginnt eine neue Ära, die erste Seite eines ungeschriebenen Buches. In seinem Kopf nimmt das Konstrukt klare Formen an. Er sieht Nebelschwaden aus Rot, Blau und Schwarz, Tintenflecken, ein Inferno aus Flammen. Vor seinen Augen scheinen die Bilder klar, in seinem Geist sind sie verworren.

Seine Hände zittern. Er malt Welten. Epochen, Wesen und Zeit rinnen durch seine Finger wie feiner Sand. Er kann die vielen Tore nicht zählen, durch die ihn seine Fantasie bereits geführt hat. Die Orte, an denen er sich befunden hat, die Menschen, die er traf, sie geraten langsam in Vergessenheit. Gesichter verschwinden, Konturen lösen sich auf, Orte erscheinen ihm wie ausradiert.

Seine Hände erschaffen Kontinente und Leben.

Er fühlt sich wie Gott, wenn er vor der leeren Leinwand steht. Aus dem Nichts erscheinen Formen, Farben, Ideen. Tausendmal schon stand er vor der weißen Wand. Seine Gedanken sind wie ein leeres Gefäß, das sich mit Leben füllt, sobald er nach dem Pinsel greift.

Diesmal treibt ihn ein anderes Gefühl. Etwas Großes. Etwas Wildes. Er zieht eine zweite Linie, eine Dritte. Er malt in dunklen, bedrohlichen Farben. Eine Stimme raunt ihm zu, wie der nächste Pinselstrich auszusehen hat. Er ist nicht länger der Wächter seiner Sinne. Jemand anders lenkt und leitet seine Bewegungen.

Durch seine Finger rinnt Magie. Er schließt einen Pakt mit dem Teufel. Jedes Bild ein Stück seiner eigenen Seele.

Unter all den Menschen, die tagtäglich an ihm vorübergehen, ist er nur irgendjemand. Einer von vielen. Hier ist sein Bewusstsein das Nichts und er selbst das Alles.

Er lässt sich von den Stimmen führen und leiten. Immer dunkler und wilder werden die Striche und Kreise, die er in die Leere wirft. So verworren wie seine Gedanken selbst. Er wendet sich ab. Das Herz rast in seiner Brust. In seinen Händen wohnt der Teufel selbst. Mit spitzen Zungen befiehlt er ihm, zu vollenden, was er angefangen hat. Doch noch sträubt er sich.

Er spürt, wie seine Lebenskraft durch den hölzernen Pinsel in dessen Fasern sickern. Es fühlt sich an, als malt er mit seinem eigenen Blut. Jeder Strich eine Stunde Leben, die ihm verloren geht. Jede neue Farbe eine Entdeckung, die er niemals mehr machen wird. Jede Stunde, die er vor dem Bau dieser neuen Welt steht, ein Tag, an dem er das Haus nicht verlässt.

Er kann weder essen, noch trinken. Wahnhaft kritzelt er, ganz gleich, ob es Tag wird, oder Nacht. Seine Gedanken lösen sich auf. Spinnennetze verdrahten die letzten Nervenstränge in seinem Gehirn neu.

Der Pinsel fühlt sich schwerer an. Seine Arme bestehen aus Blei. Er will sie heben, aber sie gehorchen ihm nicht mehr. Sein Blick richtet sich auf das, was ihm grinsend von der Leinwand aus entgegen starrt. Eine Fratze, kaum mehr als menschliches Gesicht zu erkennen. Ein Teufel mit eingefallenen Augen, wildem Blick, mit gelben Zähnen und hageren, eingefallenen Wangenknochen.

Der Pinsel fällt ihm aus den Fingern. Er klirrt. Farbe spitzt auf den Teppich und verfängt sich in den langen Fasern. Seine Lebenskraft ist in das Bild geflossen.

Seine Beine verweigern ihm den Dienst. Entkräftet muss er sich setzen.

Die Tage, die er wie besessen auf die Leinwand gestarrt und Raubbau mit seinem Körper getrieben hat, rächen sich nun. Er sinkt zusammen. Schwer fallen seine Lider herab. Das Bild ist nicht fertig geworden. Er muss sich noch einmal aufraffen, die letzten feinen Linien ziehen, es zu Ende bringen. Aber er kann nicht mehr.

Mit diesem letzten Akt verhöhnt ihn der Teufel ein letztes Mal. Die Unvollkommenheit seines Meisterwerks lacht auf ihn herab.

Gefangen im WeißWo Geschichten leben. Entdecke jetzt