Die rosarote Brille

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Die ganze Woche über gingen mir Marys Worte nicht mehr aus dem Kopf. Noahs ständige Flirterei und die ‚zufälligen' Berührungen machten es auch nicht besser. Ich fing an, mich an seine Nähe und Aufmerksamkeit zu gewöhnen. Tatsächlich genoss ich es sogar, was mir ziemlich Angst einjagte.
Schuldbewusst dachte ich an Louis und wie wir an meinem Geburtstag auseinandergegangen sind. Ich hatte seitdem nichts mehr von ihm gehört, daher beschloss ich kurzerhand, ihm eine Nachricht zu senden. Vielleicht sollten wir uns mal aussprechen und die Sache aus der Welt schaffen, insofern es noch möglich war. Wenige Minuten später kam die Antwort, dass wir uns nach Feierabend im Café von Mary treffen könnten. Glücklich über die Zusage arbeitete ich den Tag über die anstehenden Aufgaben ab und verabschiedete mich von Noah.

„Wir sehen uns später im Pub?" fragte er auf dem Weg zum Auto. Ich hielt nur meine Daumen nach oben und hastete zum Bus. Den Umweg zum Café musste Noah nicht auf sich nehmen, die Strecke konnte ich auch selbst bewerkstelligen.
Ich betrat das Geschäft und entdeckte Louis an einem der Tische. Schnell bestellte ich meinen üblichen zuckerhaltigen Lieblingskaffee bei Mary, welche mir leise Glück wünschte und setzte mich lächelnd zu ihm.
„Hey, danke, dass du Zeit hattest." sagte ich und drapierte meine Tasche auf den Boden. „Kein Problem. Wir haben uns ja die Woche noch nicht gesehen." sagte er und schenkte mir ein schwaches Lächeln. Sein Cappuccino war bereits zur Hälfte leer. „Also, ähm, wie geht es dir?" fragte ich unbeholfen, da ich nicht wusste, wie wir dieses Gespräch angehen sollten. Wenn Mary Recht hatte und er tatsächlich etwas für mich empfand, würde es schnell sehr unangenehm werden. Ich wusste nicht so recht, wie ich damit umgehen würde oder sollte.
„Gut." sagte er und betrachtete mich kurz nachdenklich. „Warum sind wir hier, Emma?" fragte er direkt und lehnte sich nach hinten. Seufzend nahm ich einen Schluck von meiner Tasse und antwortete etwas bedrückt. „Naja, du bist an meinem Geburtstag so schnell abgehauen und es wurde irgendwie komisch. Deshalb wollte ich eigentlich nur fragen, ob alles in Ordnung ist."
„Hast du was mit Noah?" ignorierte er meine Aussage und blickte etwas finsterer drein. „Ähm, nicht direkt, was soll die Frage?" Jetzt war er derjenige, der schwer ausatmete und etwas die Stirn runzelte. „Ich glaube, dass kannst du dir schon denken. Du willst es nur nicht aussprechen." Nein, das wollte ich tatsächlich nicht. „Ich weiß nicht, was du meinst."
„Dass ich Gefühle für dich habe, Emma. Verdammte Gefühle seit verdammten Jahren!" Nun wurde er etwas lauter, sodass einige Personen von Nachbartischen zu uns herübersahen. Entschuldigend lächelte ich sie an und wandte mich wieder an Louis, meinen besten Freund. Ich hatte gerade das Gefühl, ihn zu verlieren. „Louis, es tut mir so leid, aber ich hatte nie etwas bemerkt..."
„Ich weiß. Es ist auch nicht deine Schuld, ich hätte früher etwas sagen sollen." Sein Wutausbruch ist verpufft, jetzt blieb nur noch Resignation und Enttäuschung. „Ich weiß auch, dass du nicht das gleiche empfindest. Es ist okay, ich habe damit gerechnet. Nur als du jetzt mit Noah angebandelt hast..." Seine Stimme klang verletzt. „Magst du ihn?"
„Ich weiß nicht, was ich für ihn empfinde." gab ich ehrlich zu und beobachtete, wie er nur fassungslos den Kopf schüttelte, als hätte ich laut meine Liebe gestanden. Noah war mir wichtig und ich mochte ihn, auch wenn er mich öfter auf die Palme brachte. Außerdem löste er bei mir regelmäßig Hitzewellen aus, denen ich nicht mehr widerstehen konnte. Würde man das als Liebe bezeichnen? Darüber mache ich mir später Gedanken.
„Du trägst sogar seine Kette." sagte Louis und unterbrach meine Gedankengänge. Automatisch griff ich danach und betrachtete das kleine silberne E. „Es war ein Geschenk."
„Besser als meins, auf jeden Fall." murmelte er verächtlich. „Das stimmt doch nicht, Louis. Ich habe deinen Bilderrahmen direkt in mein Zimmer gestellt." hielt ich dagegen, doch er seufzte nur. Einige Sekunden war es still, bis er seine Tasse leerte und seine Sachen packte. „Hör zu, ich brauche ein wenig Zeit für mich. Vielleicht wird etwas Abstand helfen, darüber hinweg zu kommen." meinte er, sodass ich nur traurig aufblickte. „Was? Wie lang?" Er zuckte nur die Schultern und stand auf. Ich tat es ihm nach und zog ihn zum Abschied in eine Umarmung, die er nur etwas widerwillig erwiderte. Traurig hielt ich ihn fest und dachte an die vergangenen Jahre der Freundschaft zurück. Wie konnte mir nie auffallen, dass er mehr wollte als das? War ich so blind gewesen? „Du fängst jetzt aber bitte nicht an zu weinen oder so. Du weißt, ich kann es nicht leiden, wenn du weinst." lachte er und löste sich von mir. Tatsächlich hatte sich ein kleines Tränchen produziert, da ich echt traurig war. Es fühlte sich so an, als würde es nie wieder so wie vorher sein. „Tut mir leid. Wir sehen uns dann? Irgendwann?" fragte ich vorsichtig und wischte mir etwas Feuchtigkeit aus den Augen. Er schenkte mir ein liebevolles Lächeln und nickte, winkte Mary zum Abschied zu und verschwand aus dem Café. Irgendwie hatte das gerade mehr wehgetan als die Trennung von meinem Exfreund.

Ich wartete betrübt, bis Marylin endlich Feierabend machen konnte und wir uns direkt auf dem Weg zum Pub machten. Ich hatte bisher immer noch nicht viel gesagt, doch Mary gab ihr bestes, mich aufzumuntern. Letztendlich ist es wirklich besser für Louis, erstmal auf Abstand zu gehen und zu schauen, was die Zeit bringt. Ich konnte meine Gefühle für ihn eh nicht ändern; ich würde immer meinen besten Freund in ihm sehen. Und außerdem ist dein Herz schon genug beschäftigt, dachte ich, als wir den Pub betraten und unsere Verabredungen an der Bar sahen. Bei Noahs Anblick fing mein Puls an sofort zu steigen, obwohl er mich nur anlächelte. Ich spürte, wie sich ein Grinsen in meinem Gesicht bildete, als wir auf die beiden zugingen.
„Hey, Ladys." begrüßte uns Pete, der überraschenderweise nicht arbeiten war, da seine Schicht getauscht wurde. Mary gab ihm einen Kuss, sodass ich etwas verlegen danebenstand und Noah ansah. Er wirkte etwas erwartungsvoll, doch ich traute mich nicht, ihn einfach so zu küssen. Schließlich waren wir nicht zusammen oder hatten gar geklärt, was das zwischen uns nun war. Mary verdrehte nur die Augen bei unserem Anblick und zog uns Richtung Tisch. „Ihr braucht erstmal einen Drink zum warm werden."
„Ich weiß nicht genau, was du mit warm werden meinst." sagte ich verwirrt, bevor wir uns setzten und Noah meinen Stuhl näher an sich heranzog, um seinen Arm auf meine Lehne zu legen. „Ich weiß es, doch bei mir ist das definitiv nicht nötig."
„Aber bei ihr." meinte Mary und grinste.
Tatsächlich hatte ich inzwischen bessere Laune und die Drinks taten ihr Übriges. Warum machte mich Alkohol immer selbstbewusster? Da heute wieder Live-Musik abgespielt wurde, beschlossen wir kurzerhand, mitzutanzen. Lachend standen wir zu viert im Kreis und versuchten, im Takt mitzuhalten. Da offensichtlich auch keiner von uns tanzen konnte, sahen wir dementsprechend aus. Vor Lachen konnten wir irgendwann nicht mehr, bis die Band etwas Entspanntes anspielte und Mary und Pete sich in die Arme fielen. Noah reichte mir vornehm die Hand, welche ich mit einem Knicks annahm. Kichernd legte ich meine Hände um seinen Hals und er legte seine auf meine Hüfte ab. Wir schaukelten etwas hin und her, was uns beide zum Grinsen brachte.
„Du tanzt echt grottenschlecht." unterbrach er die Stille und ich machte ein gespielt entsetzten Laut. „Du bist auch nicht besser!"
„Weißt du, worin ich besser bin?"
So langsam wusste ich, worauf er hinauswollte, doch ich tat so als ahnte ich nichts. „Im Scharade spielen?" Kichernd lehnte ich mich weiter an ihn und betrachtete sein belustigtes Grinsen. Er sah einfach zu gut aus für diese Welt. Er schüttelte den Kopf und fuhr mit einer Hand langsam meinen Körper hinauf, während er mich mit hungrigen Augen ansah. Er umfasste meinen Hinterkopf und küsste mich stürmisch. Im Hintergrund konnte ich nur noch einen Jubelschrei von Mary ausmachen, doch ich konzentrierte mich nicht darauf. Mein Kopf war benebelt von Noah; seinem Geruch, seinen Berührungen, seinem Kuss. Unbewusst setzte ich die rosarote Brille auf.

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