Leben statt erleben

3.2K 125 6
                                    



Anna Lilienthal

Ich starrte aus dem Fenster. Es war Mitte Dezember, die Welt draußen sah grau und träge aus und genau so fühlte ich mich auch.

Montag, dritte Stunde und meine 6. Klässler schrieben gerade ihre Deutscharbeit. Man konnte die Panik in diesen kleinen Gesichtern förmlich spüren. Mein Blick wanderte rhetorisch durch den Raum. Niemand verhielt sich auffällig unauffällig. Alle waren fleißig und konzentriert am Arbeiten.

Meine Gedanken wanderten von ganz alleine weg von diesem Raum hin zu meinen Problemen. Torben und ich hatten uns am Vorabend erneut gestritten.
Es war mittlerweile eine Gängigkeit geworden. Wir stritten uns wegen Kleinigkeiten, wie beispielsweise wer zum Einkaufen geht oder wegen des Hausbaues. Ein großes Thema zwischen uns.
Das Haus, was Torben sich so wünschte, welches wir gemeinsam bauen wollten. Wenn es nach ihm ginge jetzt sofort. Wenn es nach mir ginge gar nicht.
Unsere Arbeit beanspruchte uns beide sehr, aber irgendwie waren das auch nur eine, der vielen Ausreden die ich fand, um dieses eine kleine Detail zu verdrängen.
Ich war verwirrt, unentschlossen und vor allem: schlecht gelaunt.

Schlecht gelaunt, weil ich im allgemeinen Streitigkeiten hasste, eben auch mit Torben.
Schlecht gelaunt, weil ich es langsam nicht mehr leugnen konnte, dass ein wirkliches Problem zwischen mir und meinem Mann stand.
Schlecht gelaunt, meinetwegen. Wegen meiner Gedanken und Gefühlen die ich hatte. Wieso konnte ich nicht wieder zufrieden mit meinem Leben sein?
Und besonders schlecht gelaunt, wegen dieses einen Punktes in meinem Leben.

Ich konnte immer seltener Juliette aus meinen Gedanken verbannen. Am Wochenende wollte Torben einen Film gemeinsam gucken. Automatisch erinnerte ich mich daran, wie Juliette neulich erwähnte, dass sie Harry Potter liebte und immer wieder gucken könnte. Also endeten Torben und ich auf dem Sofa und guckten Harry Potter. Er hatte mich erst etwas schräg angeguckt, da ich nie großes Interesse daran gezeigt hatte, aber hatte dann doch meinem Vorschlag schulterzuckend zugestimmt.
Während des Films überlegte ich immer, was Juliette wohl zu den Szenen sagen würde. Wirklich geschockt war ich dann, als ich mir plötzlich vorstellte, dass der Arm, der mich umschlang von meiner Schülerin war und nicht von meinem Mann.

Ungefähr einen Monat war es her, dass wir gemeinsam unterwegs gewesen waren. Bei einem Konzert in einer Bar, etwas entfernt von unserer Heimatstadt, wo wir niemals zusammen in eine Bar hätten gehen können. Jedenfalls nicht, ohne das ich Paranoia bekommen hätte. Natürlich war das nicht das letzte Mal gewesen, dass wir gesprochen hatten.
Ich sah Juliette fast jeden Tag in der Schule und ab und zu fuhren wir auch gemeinsam Fahrrad nach Hause, aber uns so richtig verabredete und länger als zehn Minuten geredet hatten wir des Längeren nicht.
Ich redete mir immer wieder ein, dass ich das so wollte und das es so richtig war, aber tief in meinem Inneren wusste ich es besser. Das Verlangen, das 18-Jährige Mädchen ständig um mich zu haben war nicht vergangen oder weniger geworden. Ganz im Gegenteil:
Juliette schwirrte mir ununterbrochen in meinen Gedanken rum. Egal ob ich in der Schule war oder unter Menschen.
Sie faszinierte mich. Sie war alles, was ich niemals verkörpert hatte. Sie tat Dinge, die ich niemals so tun würde, aber trotzdem faszinierte sie mich. Alleine schon ihr Auftreten zog mich in einen Bann, den ich bei Niemandem bis jetzt so hatte. Natürlich wusste ich, wie sich Glücklichsein anfühlte oder Traurigkeit. Ich wusste auch, wie sich Liebe anfühlte, sonst hätte ich Torben doch niemals geheiratet. Hätte ich ihn nicht geliebt. Aber was ich bei Juliette fühlte, war mir neu. Vor einem Jahr hätte ich auch niemals über so etwas intensiv nachgedacht.

Nun fühlte ich mich langweilig und spießig. Ich ging auf die 30 zu und hatte noch nichts richtig erlebt. Das erste Mal einen Joint hatte ich mit meiner 18-jährigen Schülerin geraucht. Aber das Schlimmste an dieser Tatsache war, dass ich es wieder tun würde.

Fliegen lernenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt