„Martin, ich bin Arzt. Ich wette, ich habe schon schlimmere Dinge als dein Bein gesehen.", stellte Otto selbstsicher klar. Martin seufzte leise. Natürlich hatte Otto schon weitaus schlimmere Verletzungen gesehen. Er hatte Menschen sterben sehen, aber das hier war anders. Otto hatte keine Vorstellung davon, wie gebrochen Martin wirklich war... Der junge Pfleger wollte seinen Freund vor allem Leid in der Welt beschützen und Otto war in letzter Zeit so glücklich, jetzt wo sie sicherer waren als jemals zuvor, seit sie sich kennengelernt hatten. Der junge Arzt kam so gut zurecht mit ihrer neuen Situation und war bekannt als der fröhlichste Mitarbeiter des gesamten Klinikums. Martin wollte nicht der Grund dafür sein, dass Otto sich sorgte und sein Lächeln an Glanz verlor... Langsam setzte Martin sich wieder hin. Normalerweise akzeptierte Otto, wenn sein Freund über etwas nicht sprechen wollte, aber dieses Mal würde er nicht lockerlassen, so viel war klar. Mit leicht zitternden Fingern nahm Martin seine Prothese ab und gab so den Blick auf sein stark gerötetes Bein frei. Otto sog scharf die Luft ein, als er die dunkel verfärbten Striemen auf Martins Oberschenkel sah, die offensichtlich nicht durch eine schlechtangepasste Prothese verursacht worden waren. „Warum...hast du das getan?", flüsterte Otto entsetzt und Martin fühlte sich nicht stark genug, um Otto in die Augen zu sehen, stattdessen hatte er seinen Kopf gesenkt und presste seine Kiefer aufeinander. „Es hat sich gut angefühlt..." Das war die unangenehme Wahrheit. Sie nun auszusprechen fühlte sich schrecklich an und Martin schämte sich dafür... Für einen Moment herrschte Totenstille. Martin hob langsam seinen Kopf und bereute es, als er den Ausdruck auf Ottos Gesicht sah. Eine Mischung aus Enttäuschung und Schmerz lag in seinen Augen. „Bin ich nicht vertrauenswürdig genug?" Nein. Nein, nein! Otto durfte auf keinen Fall anfangen die Schuld bei sich zu suchen, er konnte doch nichts für Martins Verhalten! „Otto... nein. Es ist nicht deine Schuld! Ich vertraue dir am Meisten. Ich wollte dir von meinem Problem erzählen. Ich wollte darüber sprechen... aber es war einfach zu viel für mich!" Warum hatte er Otto nicht schon früher davon erzählt? Dann wären sie jetzt nicht in dieser Situation und Otto würde keinen Grund haben an sich selbst zu zweifeln. Martin vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Was war er nur für ein feiger Idiot? „Es war zu viel für dich, mir zu sagen, dass du mich nicht mehr liebst. Deshalb hast du in den letzten Tagen versucht so wenig Zeit mit mir zu verbringen wie möglich. Du willst dich von mir trennen, richtig?" Ottos Stimme war kaum hörbar, als er diese Worte sprach. Was? Der Schmerz in seiner Stimme zerriss Martins Herz beinahe und sein Kopf schoss nach oben. Hatte er Otto wirklich das Gefühl vermittelt, dass er ihn nicht mehr an seiner Seite haben wollte? „Nein!" Martin stand auf und griff ein wenig unsanft nach Ottos Schultern. „Denk das nicht. Ich liebe dich, Otto Marquardt!" Nur selten sprach Martin diese Worte aus. Sie waren gefährlich, zu gefährlich für sie beide und dadurch noch viel bedeutungsvoller. Martin hoffte, dass diese Worte seinen Freund überzeugen würden, doch immer noch waren Zweifel in diesen wunderschönen blauen Augen sichtbar. „Ich liebe dich, mehr als alles andere auf dieser Welt.", bestärkte er seine Worte und küsste Otto sanft. Kurz ließ der Jüngere es zu, bevor er einen Schritt zurücktrat und tief in Martins Augen blickte. „Dann erzähl mir, was dich so sehr beschäftigt, dass du dir selbst wehtust. Ich will dir helfen, aber das kann ich nur, wenn ich das Problem kenne." Martin seufzte leise. Otto hatte recht. „Ich weiß nicht, ob ich dir alles erzählen kann... Manches ist zu schmerzhaft, um überhaupt darüber nachzudenken und ich habe es lange versucht zu verdrängen..." Otto strich vorsichtig über Martins Wange. „Ich gebe dir alle Zeit der Welt, aber zwing mich nicht dabei zuzusehen, wie etwas dich von innen auffrisst." Wieder seufzte Martin. Weglaufen war keine Option mehr und auch wenn ihm der Gedanke Angst machte nun seine Geschichte erzählen zu müssen, so war es doch auch eine Erleichterung. „Dann sollten wir uns hinsetzen, es wird eine lange Geschichte.", flüsterte er schließlich und ließ es zu, dass Otto nach seinem Arm griff und ihm beim Hinsetzen half. „Ich glaube ich habe recht früh bemerkt, dass ich anders war als die anderen Jungen aus meiner Klasse. Ich hatte zwar ein paar Freunde und kam mit den meisten anderen schon ganz gut zurecht, aber es fühlte sich trotzdem so an, als würde ich nicht wirklich reinpassen. Als ich 15 war, musste ich anfangen in einer Fabrik zu arbeiten, anstatt zur Schule zu gehen, weil meine Mutter Probleme hatte unsere Miete zu bezahlen..." Otto schmiegte sich enger an Martins Schulter heran und griff nach seiner Hand. „Und dein Vater? Hätte er euch nicht helfen können?" „Mein... Vater wollte nie Kinder haben. Als er herausfand, dass meine Mutter schwanger war, verließ er sie. Ich kenne nicht einmal seinen Namen." Otto sah ihn entschuldigend an. „Es tut mir leid, Martin. Ich hätte nicht fragen sollen..." „Schon gut. Ich hätte es dir früher erzählen sollen... Jedenfalls habe ich bei der Arbeit dann endgültig festgestellt, dass ich mich nicht für Frauen interessiere. Während alle anderen Angestellten ihre Abende damit verbracht haben auszugehen, habe ich es bevorzugt zu Hause zu sein. Als ich 19 war, habe ich herausgefunden, dass meine Mutter dem Alkohol verfallen war. Mein sicheres Zuhause verwandelte sich bald in eine Hölle. Ab irgendeinem Punkt ging meine Mutter nicht mehr zur Arbeit, saß nur noch zu Hause, weinte und schrie mich an, wenn sie mich auch nur sah. Sie war enttäuscht von mir, dass ich kein charmanter, gutaussehender junger Mann war, der sich an eine reiche Frau ranmachte und damit all ihre Geldprobleme lösen konnte. Ab da an habe ich versucht so selten wie möglich nach Hause zu gehen und bin stattdessen durch die Straßen Berlins gelaufen..." Die Schuldgefühle überwältigten Martin beinahe. Eigentlich war das noch nicht einmal der Teil seiner Vergangenheit, der ihn in den letzten Tagen so sehr beschäftigt hatte, doch erst jetzt viel ihm auf, dass diese Geschichte ihm ebenfalls gehörig zusetzte... Er hatte seine Mutter im Stich gelassen. Natürlich hatte er versucht jeden Tropfen Alkohol, der es in die Wohnung geschafft hatte, zu entsorgen, als seine Mutter ausnahmsweise mal nicht anwesend war. Geholfen hatte es allerdings nicht, ganz im Gegenteil. Es hatte nur dazu geführt, dass seine Mutter unfassbar wütend wurde und ihr Alkoholkonsum noch einmal zunahm... Sie hatte sich kaputt gemacht und er hatte einfach nur machtlos zusehen können. Das Ganze fühlte sich immer noch so an, als wäre es sein Fehler gewesen. Er hatte versagt und hatte niemals die Chance gehabt seinen Fehler zu in Ordnung zu bringen. 1941 hatte er eines Tages einen Brief an die Front geschickt bekommen, der einzige, den er dort jemals erhalten hatte. Ein ehemaliger Nachbar informierte ihn darin über den Tod seiner Mutter und als hätte das Schicksal es so gewollt, wurde Martin nur wenige Tage später schwer verwundet und wäre beinahe seinen Verletzungen erlegen... Die Schuld und die unterdrückte Trauer fühlten sich an wie ein Messer in seinem Herzen. Otto umarmte ihn fest, ohne etwas zu sagen. Martin krallte seine Finger in das Hemd seines Freundes und zog ihn enger an sich. „Deine Mutter lebt nicht mehr, oder?", flüsterte Otto leise. Ein Schluchzen entwich Martins Kehle und das war für Otto Antwort genug. „Shhh, mein Süßer. Es war wohl kaum deine Schuld. Kein 19-jähriger kann einen Menschen von seiner Sucht befreien, ohne das nötige Wissen und ohne Unterstützung." Auch jetzt hatte Otto wieder recht. Dennoch fühlte es sich so an, als hätte Martin irgendetwas unternehmen müssen, um seine Mutter zu retten... Die nächsten Minuten über saßen sie einfach nur eng umschlungen auf dem harten Boden. Liebevoll strich Otto durch Martins zerzauste Haare. „Martin, ich weiß, dass es dir besonders schwer fällt über deine Vergangenheit zu sprechen, aber geteiltes Leid ist halbes Leid... Ich werde immer für dich da sein, mein Schatz."
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Catch up with the past, before it catches up with you
ФанфикFanfiction über Otto Marquardt und Martin Schelling aus der zweiten Staffel von Charité. Martin hat die letzten fünf Jahre versucht seine Vergangenheit zu verdrängen. Mehr und mehr muss er jedoch feststellen, dass es so nicht weiter gehen kann.