Kapitel 4

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Einige Tage waren vergangen seit der Nacht, die Martin und Otto gemeinsam auf dem Dachboden verbracht und über Wilhelm geredet hatten. Diese Tage waren nahezu unerträglich ereignislos gewesen, zumindest für Martins Empfinden. Keiner der Patienten kannte Wilhelm... Oder keiner wollte sich an ihn erinnern. Manche hatten nicht einmal auf die Frage reagiert, aber das konnte Martin ihnen kaum zum Vorwurf machen. Immerhin hatte er selbst lange versucht seine Vergangenheit zu verdrängen. Das Ganze machte seine ganze Lage jedoch keineswegs einfacher. Er hatte kaum geschlafen in den letzten Nächten. Seine Fantasie spielte ihm üble Streiche, sodass ihn die Bilder eines halb verhungerten oder toten Wilhelm bis in den Schlaf verfolgten...

Der junge Pfleger starrte in den kleinen Badezimmerspiegel seiner Wohnung. Er musste zugeben, dass der Schlafmangel sichtbare Spuren auf seinem Gesicht hinterlassen hatte, kein Wunder also, dass Otto immer so besorgt aussah, wenn sie sich begegneten. Nachdem Otto einige Nachtschichten gehabt hatte, hatten sich die beiden kaum gesehen und auch jetzt drang nur das leise Schnarchen seines Freundes durch die dünne Holztür an Martins Ohren. Zugern hätte er vor seiner Schicht noch einmal Ottos Stimme gehört, aber der junge Arzt brauchte seinen Schlaf nach einer anstrengenden Schicht.

Martin seufzte leise, schloss für einen Moment seine Augen, bevor er das Badezimmer verlies. Seine Schicht würde in wenigen Minuten beginnen, doch gerade als er dabei war die Wohnungstür zu öffnen, fiel sein Blick auf einen Zettel, der auf der niedrigen Kommode lag.

Das schönste hier auf Erden, ist lieben und geliebt zu werden. (Wilhelm Busch)

Er hat recht, Martin. Hab einen schönen Tag!"

Martin konnte ein kleines Lächeln nicht verhindern, als er Ottos Worte auf dem Papier las. Sein Freund bemühte sich wirklich sehr darum, dass Martin sich besser fühlte. Kurz drehte er den Kopf ein Stückchen zur Seite und betrachtete seinen friedlich schlafenden Lebensgefährten einen Augenblick lang. Womit hatte er diesen wunderbaren Menschen an seiner Seite nur verdient?

Die nächsten Stunden hielten Martin ziemlich auf Trab und er verfluchte sich selbst, nicht ausreichend geschlafen zu haben. Gerade wünschte er sich nichts sehnlicher als neben Otto in sein warmes Bett zu kriechen und sich an den starken Körper seines Freundes zu schmiegen. Nur Otto könnte ihm jetzt das Gefühl von Sicherheit vermitteln, das er so dringend brauchte. ‚Vergiss es, wenn du neben ihm liegst werden die Schuldgefühle definitiv nicht weniger, also konzentrier dich auf deine Arbeit, Schelling!', wies er sich stumm zurecht und gerade in diesem Augenblick stieß er mit jemandem zusammen.

Die Metallschüssel mit OP-Besteck, die Martin in der Hand gehalten hatte viel mit einem unangenehm lauten Scheppern zu Boden. Verdammt. Es würde Stunden dauern den gesamten Reinigungsprozess zu wiederholen!

„Entschuldigen Sie bitte, das wollte ich nicht. Ist alles in Ordnung?", fragte Martin den mageren Mann, der ihm gegenüberstand. Dieser nickte nur kurz und machte dann Anstalten sich zu bücken, um die heruntergefallenen Instrumente vom Boden aufzulesen. Martin wollte ihn sofort aufhalten, doch Schwester Helga, die gerade den Gang betrat, war schneller.

„Bitte entschuldigen Sie diese Unannehmlichkeiten!", wandte sie sich direkt höflich an den Unbekannten, doch der strafende Blick, den sie Martin zuwarf, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Was würde dieser Fehler wohl für Konsequenzen haben? Es war schließlich nicht der Erste in dieser Woche gewesen... Sein Puls raste, als er sich langsam hinkniete, um das OP-Besteck aufzuheben. „Martin, beseitige das Chaos und danach sehen wir uns in Sauerbruchs Büro!", fuhr sie ihn an und Martin nickte einfach nur. Jeglicher Protest war ohnehin zwecklos.

„Es war nicht seine Schuld. Ich war völlig in Gedanken versunken und habe ihn nicht kommen sehen. Es tut mir leid.", widersprach der Hagere leise, ganz so als hätte er Schwierigkeiten damit Widerworte zu geben. Martin hob verwirrt seinen Kopf. Er war sich ziemlich sicher, dass er derjenige gewesen war, der überhaupt nichts von seiner Umgebung wahrgenommen hatte, als er durch den Korridor gelaufen war. Doch Schwester Helgas Gesichtsausdruck wurde ein kleines bisschen weicher und dafür war Martin dem Unbekannten unendlich dankbar. Der Mann nickte nur knapp und ging dann ohne ein weiteres Wort zu sagen davon.

Martin versuchte immer noch zu verstehen, was gerade passiert war, als die Stimme der Oberschwester an sein Ohr drang. „Sitz nicht wie eingefroren auf dem Boden herum und hör auf mein Mitleid erregen zu wollen. Ein fehlendes Bein ist keine Entschuldigung für mangelnde Arbeitsmoral!"

Wie bitte? Martin hatte seine körperliche Einschränkung bisher noch nie als Ausrede benutzt, noch wollte er irgendjemandes Mitleid erregen. Ganz im Gegenteil, er wollte einfach genauso behandelt werden, wie jeder andere auch! Martin wollte widersprechen, doch Schwester Helga war bereits hinter der nächsten Ecke verschwunden. Was war denn heute mit ihr los? Gut, sie waren noch nie besonders gute Freunde gewesen, aber normalerweise war sie nicht ganz so schnippisch ihm gegenüber...

Martin schluckte seinen Ärger hinunter und versuchte jeden Gedanken an das bevorstehende Gespräch in Sauerbruchs Büro zu vermeiden. Der Chef würde wohl kaum erfreut sein, wenn er von Martins Fehlern erfuhr. Ein Schauer lief ihm den Rücken hinunter, als er das restliche Besteck zurück in die Schüssel verfrachtete. Mühsam rappelte er sich auf und brachte die Instrumente zurück an den Ort, von wo er sie gerade erst geholt hatte. Sollte er direkt jetzt mit dem Putzen und Desinfizieren anfangen, oder doch lieber zuerst zu Sauerbruch gehen? So klar waren Helgas Anweisungen in der Hinsicht nicht gewesen...

Nun, besser früher als später. Das schien zumindest die logischste Möglichkeit zu sein. Martin seufzte und machte sich auf den Weg zu Sauerbruch. Fast fühlte er sich wie ein Lamm auf dem Weg zur Schlachtbank. Was würde ihn wohl gleich erwarten? Mit zitternden Knien erreichte er schließlich das Büro. Gedämpfte Stimmen drangen daraus hervor und Martin blieb unschlüssig vor der Tür stehen. Natürlich wollte er niemanden belauschen, aber er war viel zu nervös, um sich davon abzuhalten genauer hin zu hören. Sein Herz begann noch schneller zu rasen, als er Schwester Helgas Stimme erkannte, doch ihre Worte waren zu leise, um sie auch nur ansatzweise verstehen zu können. Ob sie wohl gerade über ihn sprach? Plötzlich wurde sie von einer deutlich lauteren Stimme unterbrochen. Sauerbruch. Und ganz im Gegensatz zu ihren Worten waren seine klar verständlich. „Schwester Helga, momentan gibt es an der Charité wirklich keinen Platz für Neid. Wenn dir meine neue Aufgabenverteilung nicht passt, dann steht es dir frei zu kündigen."

Martin war nun noch mehr verwirrt. Welche neue Aufgabenverteilung Sauerbruch wohl meinte? Doch ihm blieb keine Gelegenheit genauer über das gehörte nachzudenken, denn genau in diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen, Schwester Helga stürmte heraus und bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick. Wenn Blicke töten könnten, dann wäre Martin auf der Stelle tot umgefallen, da war er sich sicher und er war froh, als Helga an ihm vorbei gerauscht war.

„Ah, Martin. Komm rein, ich wollte sowieso mit dir reden.", erklärte Sauerbruch, als er Martin entdeckte, der ein wenig verloren vor der Tür stand. Der junge Pfleger holte tief Luft, nahm all seinen Mut zusammen und betrat das Büro des Professors.

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