Julekake

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„Was wollt ihr?", wiederholte Brias Großvater zum hundertsten Mal. Bria wusste schon gar nicht mehr wie sie irgendetwas aus ihm herauskriegen sollten.
„Wir wollen nur wissen was Ma damals auf die Landstraße getrieben hat und weshalb sie nicht den schnelleren und sichereren Weg über die Autobahn genommen hat", versuchte sie es, aber Agnar verharrte trotzig an der Tür ohne sie anzuschauen. Ihr fiel seine faltige Hand auf, die sich am Türrahmen festgekrallt hatte und verkrampft aussah. Insgeheim fragte sie sich, weshalb er nicht einfach die Tür zuknallte.

"Frag ihn doch, er war schliesslich dabei", presste er hervor und zeigte mit einem leicht zitternden Finger auf Arlo. Dieser blickte ungläubig zu seiner Schwester, doch auch sie wusste sich keinen Rat.
"Bei allem Respekt, G-Großvater, aber das ist nicht möglich. Arlo war bei mir", sagte Bria vorsichtig und griff möglichst unauffällig nach Arlos zitternder Hand.

"War er das?! Weshalb hat sie mir dann geschrieben, dass sie ihren Sohn mitbringt?! Weshalb hat sie sonst die Landstraße gewählt, wenn nicht um -" Die Stimme von Agnar wurde vom kreischenden Wind übertönt und die Geschwister versuchten verzweifelt ihren Großvater zu verstehen, während dieser sich tierisch aufregte und puterrot anlief.
"Großvater, wir verstehen dich nicht", schrie Arlo aus Leibeskräften, aber ihr Großvater richtete nur seinen unbeherrschten Blick auf ihn und schwieg.
Die Luft wurde stetig eisiger und die Kälte begann Brias gesamten Körper einzunehmen. Sie wusste nicht wie lange sie schon hier standen und sinnlos rumbrüllten ohne auch nur einen Schritt voran zu kommen.

Agnar Anthønsen hatte lange nicht mehr mit anderen Menschen zu tun gehabt. Sein schütterndes Haar wehte im frostigen Wind und seine Haut war dünn und brüchig geworden. Jetzt hier in der Kälte hätte er gerne eine Jacke oder ein wärmende Fettschicht gehabt, aber er war zu stolz um seine Enkel darauf Aufmerksam zu machen und sich eine Jacke zu holen.

"Bitte. Gib uns bitte irgendetwas", versuchte es Bria erneut. Sollte er weiter schweigen oder noch irgendwas seltsames erzählen, dann würden sie eben wieder fahren.
Doch es schien zu wirken, hoffte sie zumindest, als er die Tür schloss und sie wenige Sekunden später durch ein Fenster sah, wie er die Treppe hinaufging.
Arlo hielt ihre Hand fester.

Nach kurzer Zeit wurde die Tür wieder aufgerissen , so dass haufenweise rote Farbe abblätterte und Agnar knallte den beiden ein Stück Papier in die Hand. "Nehmt das und kommt ja nicht wieder!"
Damit ballerte er die Tür wieder zu, löste einen erneuten Farbregen aus und ließ seine Enkel stehen.
Schnell steckte Bria den Brief ein, damit er nicht vom einsetzenden Regen nass wurde und schaute enttäuscht auf die purpurfarbene Tür. Sie hatte es sich anders vorgestellt.
"Los komm", sagte Arlo und zog sie vom Leuchtturm zurück zum Auto.

Donna schnarchte als sie durchgefroren ins Auto stiegen und Bria drückte auf den Knopf für die Sitzheizung. Der Brief in ihrer Jackentasche knisterte, aber sie wechselte erst ihre triefnassen Handschuhe und Socken, bevor sie ihn genauer betrachtete. Er war schon gelblich angelaufen und roch etwas modrig. Aber den Empfänger und Absender konnte man noch genau erkennen:
Von Luisa Jørgensen;  An Agnar Anthønsen

"Der ist von Ma!", rief sie aus und Arlo, der den Wagen bereits gestartet hatte und nun durch die dunkle Schneelandschaft brauste, warf ihr einen erstaunten Seitenblick zu. "Nun mach ihn schon auf!"
Zitternden vor Aufregung holte sie ein   beschriebenes Stück Papier hervor.

                                                           London, 21.06.1999
Hallo Vater,
ich werde dich besuchen kommen. Zuhause ist die Situation ein wenig eskaliert und ich denke es ist das Beste, wenn wir eine Zeit von hier weg gehen.
Wenn alles klappt, sollte ich am Samstag bei dir sein.
Lass uns doch bitte in der Gelben Eule treffen, da soll auch die Übergabe stattfinden und wir können uns dort ein wenig unterhalten.
Arlo freut sich schon so sehr darauf dich endlich zu treffen! Er redet von nichts anderem mehr und seine kleinen braunen Augen fangen immer an zu leuchten, sobald das Thema Reisen aufkommt. :)

Don't forget about me!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt