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Ich hatte es schon längst aufgegeben nach Holly zu suchen. Sie musste irgendwo hier zwischen dem Menschengedränge auf der Eisfläche sein, allerdings konnte ich sie bei Gott nicht ausfindig machen. Nicht zuletzt lag das daran, dass ich mit dem so ziemlich schlechtesten Sehvermögen der Welt gesegnet wurde, weswegen ich auch diese riesige Brille tragen musste.

Eigentlich mochte ich Schlittschuhlaufen überhaupt nicht. Es lag nicht daran, dass ich den Sport generell nicht mochte, nein, die Eiskunstläufer im Fernsehen sahen wunderschön aus, sondern es lag vielmehr daran, dass ich es einfach nicht konnte.
Während andere so aussahen wie elegante Ballerinas, glich mein Anblick eher einer Giraffe auf Inlineskates.

Meine Hose, sowie meine Handschuhe, waren schon vollkommen durchnässt, weil ich andauern aufs Eis fiel. Außerdem wurde ich schon drei mal von irgendwelchen Leuten angepatzt, da sie mir und meinem Schneckentempo gerade so noch ausweichen konnten. Eislaufen war wirklich stressiger, als ein Schachspiel gegen meinen Opa.

Als ich schon wieder über meine eigenen Füße stolperte -oder besser gesagt Kufen- konnte ich mich gerade noch so ausbalancieren, damit ich nicht wieder wie ein Dominostein auf das Glatteis plumpste. Dabei ließ ich einen halblauten Fluch aus, bei dem mich eine Mutter, die jeweils ein Kind an ihrer Hand hinterher zog, sauer anstarrte.

Vielleicht sollte ich doch lieber in vertrautes Terrain zurückkehren und diese todesbringenden Schuhe ablegen. Ich konnte Holly ja genauso gut vom Rand aus suchen.

Gerade als ich mich etwas weiter nach außen bewegte, um zum Ausgang zu gelangen, wurde ich mit voller Wucht gegen die Wand geschleudert.

Ich spürte den Aufprall wie in Trance. Für einen Moment wurde mir schwarz vor Augen, ehe ich realisierte was passierte. Jemand hatte mich gestoßen.

„Ach du Heilige Scheiße, das tut mir leid", hörte ich im Hintergrund, als ich vorsichtig versuchte mein Gesicht vom Glatteis zu schälen.

„Du blutest ja!"

Unscharf sah ich die roten Tropfen auf dem weißen Untergrund. Aus meiner Nase rannte unaufhaltsam warmes Blut und besudelte wahrscheinlich die gesamte Umgebung.

Komischerweise spürte ich den Schmerz gar nicht.

„Soll ich dir helfen?", sagte der junge Mann.

Ich nickte, noch immer etwas desorientiert, und griff nach seiner Hand.

„Geht es dir gut?"

„Ja, alles okay", meinte ich, obwohl ich alles verschwommen sah.

Ich kniff meine Augen zusammen, da der Typ nur wie ein großer, schwarzer Fleck aussah.
Erst jetzt bemerkte ich, dass meine Brille überhaupt nicht mehr auf meiner Nase saß.

„Siehst du hier irgendwo meine Brille rumliegen? Ich glaube ich habe sie verloren."

„Äh, ja klar, warte." Verschwommen bekam ich mit, wie er sich bückte und mir dann das verbogene Metallgestell mit zwei zersprungenen Gläsern reichte.
„Ich glaube, die ist nicht mehr zu gebrauchen."

„Na wunderbar...", zischte ich und stopfte den kaputten Rest in meine Jackentasche. Wie sollte ich das meinen Eltern erklären?

„Brauchst du vielleicht ein Taschentuch?"

Meine Nase blutete zwar immer weniger, aber trotzdem lehnte ich sein Angebot nicht ab und nickte.

„Hier, bitte"
Anders als erwartet drückte er es mir nicht in die Hand, sondern er presste es direkt gegen meine Nase. Dabei berührten seine warmen Finger meine Wange, wodurch ich unweigerlich den Atem anhielt.

„Danke." Da ich mir ein bisschen komisch dabei vorkam, dass ein Fremder mir so nahe kam, griff ich nach dem Taschentuch und hielt es selbst.

„Das ist das Mindeste, das ich tun kann."

„Sehe ich auch so." Denn strenggenommen war er in mich hineingefahren, nicht umgekehrt.

Er grunzte nur und sagte Nichts weiteres dazu.

„Tut es sehr weh?"

„Es geht. Ich glaube nicht, dass es sehr schlimm ist."

Plötzlich war ich wieder dabei fast den Halt zu verlieren und eine weitere Bekanntschaft mit dem betonharten Eis zu machen.

Er griff nach meinem Ellenbogen und stabilisierte mich, während er dabei dümmlich lachte.
„Willst du dich vielleicht hinsetzen?"

„Lach mich nicht aus!", meinte ich trotzig. „Aber ja. Kannst du mich bitte zum Ausgang manövrieren? Ich bin ab jetzt nämlich blind."

„Sind deine Dioptrien etwa so schlimm?"

„Jap. Ich glaube meine Krankenkasse würde mir sogar eine Lasertherapie bezahlen, damit sie nicht mehr Brillen und Augenarztbesuche für mich verausgaben müssen."

Wieder lachte er, aber diesmal stimmte ich auch mit ein.

„Ich bin übrigens Noel."

„Jule, freut mich dich kennenzulernen." Ich hielt ihm meine Hand hin, ganz so wie man es in einem höflichen Haus beigebracht bekommt, aber als er sie ergriff zog er mich einfach am Eis weiter, wodurch ich laut auf quietschte.

„Keine Sorgen, Jule, ich bringe dich nur auf festen Boden. Wir wollen ja nicht, dass du die ganze Eisbahn rot einfärbst."

„Okay", sagte ich panisch und hielt mich noch fester an seiner Hand fest. Er zog mich weiter und kam dann langsam zum Stehen.

„Achtung, hier ist eine Stufe."

Daraufhin hob ich so vorsichtig wie eine Katze das Bein an und hielt mich immer noch mit beiden Händen an Noel fest.
Aber als ich endlich normalen Boden unter den Kufen spürte, jubelte ich innerlich so laut ich konnte.

„Es tut mir übrigens sehr leid für... alles."

„Ach, ist schon in Ordnung. Könntest du mir nur bitte helfen zu meinem Kasten zu finden? Ich werde wohl oder übel die Zahlen darauf nicht mehr lesen können." Dadurch dass ich nicht durch die Nase atmen konnte, klang ich wie eine Figur aus einem Cartoon, was ich unbeirrt versuchte zu ignorieren.

„Na klar."

Ich kramte den Schlüssel aus meiner Jacke, auf dem auch die Zahl meines Spindes drauf stand, und reichte ihn ihm, wodurch sich unsere Hände ein weiteres Mal berührten.
Er führte mich zum Kasten und sperrte sogar die Tür für mich auf.

„Vielen Dank, Noel." Jetzt erwartete ich eigentlich dass er gehen würde, aber aus irgendeinem Grund blieb er noch ein paar Sekunden stehen und sah mich an.
„Brauchst du noch etwas?"

„Ich... Nein, eigentlich nicht." Wenn ich es mir nicht einbildete wurde sein Gesicht um einen Rotton greller.
Dann drehte er am Absatz kehrt und ließ mich alleine.

Meine Nase hörte sogar schon auf zu bluten, also warf ich das Taschentuch in die nächste Mülltonne.

Blind zog ich meine Schlittschuhe aus und zog meine normalen Winterstiefel an. Es war zwar ein regelrechter Kampf, allerdings war ich mir ziemlich sicher, dass ich sie nicht verkehrt herum an hatte.

Ich stolperte zum Tresen, wo ich die Schlittschuhe zurückgab, und freute mich wie ein Kleinkind über das Pfandgeld, dass ich zurückbekommen hatte.

Nun müsste ich irgendwann Holly finden, die sich bestimmt schon wunderte, wo ich geblieben war.

„Hey, Jule, warte!", ich drehte mich in die Richtung der Stimme.

SchlittschuhliebeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt