1. Kapitel

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Ich spürte den stechenden Schmerz in meinem linken Auge und ein unangenehmes Pochen machte sich in meinem Auge breit. Er hatte es schon wieder getan. Schon wieder hatte mein Vater mich geschlagen! Ich konnte es nicht glauben. Er tat dies zwar nicht zum ersten Mal, aber immer wieder, wenn er mich schlug, tat es so unheimlich weh. Ich meine nicht die körperlichen Schmerzen. Die kann man aushalten, diese Schmerzen machten mir kaum etwas aus. Es waren die psychischen Schmerzen, die mir zu schaffen machten. Jedes Mal, wenn mein Vater mich schlug und ich danach in seine vertrauten, großen, blauen Augen schaute, fühlte ich, wie mein Herz nach und nach in tausend Stücke zersprang. Es waren unerträgliche Schmerzen, doch ich konnte nichts dagegen tun.

Es war nicht immer so gewesen. Mein Papa war mal ein fürsorglicher, liebevoller Vater, der mich, meine kleine Schwester Tia und meinen kleinen Bruder Colin, wie ich glaubte, über alles liebte, doch davon war nichts mehr vorhanden.

Meine Schwester Tia ist die Jüngste von uns allen. Sie ist vier Jahre jünger als ich und somit 13 Jahre alt. Mein Bruder Colin ist 15 Jahre und ich bin 17.

Wir hatten eine tolle Kindheit und waren eine glückliche Famililie. Doch es sollte anders kommen. Als ich 13 war, starb meine Mutter. Es kam plötzlich. Sie starb bei einem Autounfall. Wir waren auf nichts vorbereitet und es war eine harte Zeit für uns alle. Mein Vater saß mit ihr in dem Unfallauto, doch er überlebte schwer verletzt. Dieser Vorfall riss mir den Boden unter den Füßen weg. Ich war am Boden zerstört, doch ich musste stark bleiben. Meine Geschwister brauchten mich, denn ich war die einzige, die sie noch hatten. Mein Vater erholte sich nie von dem Unfall. Mit niemandem sprach er darüber. Papa fing an zu trinken und verlor seinen Job. Außerdem fing er an mich für jede Kleinigkeit zu bestrafen. Erst waren es nur harmlose Bestrafungen, wie Hausarrest oder Taschengeldkürzungen, doch nach und nach wurde er handgreiflich, er schubste mich, griff mich mit festem Griff am Handgelenk und zuletzt schlug er mich. Zudem glaube ich, gibt er sich die Schuld an Mamas Tod.

Da meine Geschwister mich brauchten, hatte ich nicht viel Zeit zu trauern. Ich kümmerte mich jede freie Minute um sie und hatte kaum noch Zeit für mich, doch das war mir egal. Im Laufe der Zeit war ich wie eine zweite Mutter für sie geworden. Ich bemühte mich ihnen so viel zu helfen, wie es nur ging, denn ich wollte Colin und Tia nicht leiden sehen. Der Tod unserer Mutter schweißte uns mehr und mehr zusammen und jetzt musste ich beide auch vor meinem Vater beschützen. Ich konnte ihnen nichts von Papas Schlägen erzählen. Colin und Tia sollten von Papa nicht schlecht denken, denn vor Tia und Colin hält Papa sich zurück. Ihnen tat Papa nichts an. Er wusste, dass ich das verhindern würde. Egal wie.

Und trotz den ganzen Schlägen und Schmerzen, die Papa mir zufügte, konnte ich auch nicht schlecht über ihn denken.

Vielleicht ist es komisch, aber er ist mein Vater, wie kann ich ihn dann hassen?

Ich hasste ihn in dem Moment, in dem er mich schlug, doch der Gedanke an die Gewalttaten von Papa erfüllte mich eher mit tiefer Traurigkeit als mit Hass.

Mein Vater machte mich traurig, doch das konnte ich vor meinen Geschwistern nicht zeigen. Vor meinen Geschwistern war ich stark und ließ mir nichts anmerken. Es wurde immer schwerer die blauen Flecken und Verletzungen zu vertuschen. Die blauen Flecken am Arm,Handgelenk und Bein ließen sich noch einfach mit einem langen Shirt, Pulli oder einer langen Hose abdecken, auch die Verletzungen am Hals konnte ich mit einem Schal verstecken. Doch wie sollte ich die Verletzung am Auge verstecken, wie sollte ich die Verletzung meinen Geschwistern erklären? Der Schlag von meinem Vater war hart. Ich bekam bestimmt einen blauen Fleck oder einen Bluterguss.

Ich starrte meinen Vater wortlos an, schaute ihm in die Augen. Doch Papa tat, was er immer tat, er senkte den Blick, drehte sich um und verließ die Wohnung. Wir lebten zu viert in einer kleinen Wohnung. Ich musste mir mit meinen Geschwistern ein Zimmer teilen, doch das war okay. Die Wohnung bestand aus einem kleinen Bad, einer winzigen Küche, einem Wohnzimmer und den Schlafzimmern. Wir lebten Mitten in der Stadt und konnten zu Fuß zur Schule laufen. Das war auch wichtig, denn eine Zugfahrkarte konnten wir uns nicht leisten. Das Geld reichte gerade so zum Leben aus. Es war auch nichts anderes zu erwarten, wenn mein Vater keinen Job hatte. Doch er bemühte sich auch nicht darum einen Job zu finden, ihm war alles egal.

Abends arbeitete ich in einem Restaurant, um etwas Geld dazu zu verdienen und somit mir und meinen Geschwistern auch mal etwas zu gönnen.

Mein Vater verließ also die bescheidene Wohnung und ich hörte nur noch die Wohnungstür ins Schloss fallen. Jetzt nicht heulen, ich versuchte mir Mut einzureden, lass dir nichts anmerken. Papa kann nichts dafür. Papa trinkt. Er weiß nicht, was er tut. Papa liebt uns. Wir sind seine Kinder! Lass das nicht so an dich ran...

Doch es klappte nicht. Ich fing an zu heulen. Die Tränen flossen heiß meine Wagen runter. Ich versuchte sie wegzuwischen, doch es gelang mir nicht. Ich hörte nicht auf zu weinen und je härter ich es versuchte desto mehr weinte ich. Ich ging in mein Zimmer und kauerte mich auf mein Bett. Wieso? Diese Frage beschäftigte mich schon die ganze Zeit. Wieso musste das alles mir passieren? Womit hatte ich das verdient? In letzter Zeit hatte ich viel Zeit, um nachzudenken. Ich holte das Bild von Mama aus meiner Tasche. Das Bild hatte ich immer bei mir, es gab mir Halt. Immer wenn es mir schlecht ging, holte ich es raus und schaute es mir an. Und so tat ich es auch nun. Mama war hübsch. Sie war schlank, ungefähr 1,70 groß, hatte einen schmalen Kopf, braune Augen und blonde, schulterlange Haare. Auf dem Bild trug sie ein weißes Sommerkleid, posierte für das Foto mit den Händen an der Hüfte und lächelte herzlich in die Kamera.

Ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, an dem das Foto gemacht wurde. Es war ein heißer Sommertag und Mamas Geburtstag. Wie sehr sehnte ich mich nun an diesen Tag zurück. Ich war glücklich, losgelöst und musste mir um nichts Gedanken machen. Wann war ich das letzte Mal so glücklich? Ich konnte mich nicht dran erinnern. Wie sehr ich meine Mutter vermisste. Ich wollte sie so gerne noch einmal in die Arme nehmen, doch einmal fest umarmen und ihr sagen, wie sehr ich sie liebte. Schon wieder drang die Frage Wieso? in meine Gedanken. Wieso musste es ausgerechnet meine Mutter treffen? Sie hatte es nicht verdient. Ich vermisste sie soo doll. Es war nicht mehr zum Aushalten. Ich fühlte einen starken Stich in meinem Herzen. Wäre meine Mutter noch am Leben, wäre alles anders. Mein Vater hatte sie so sehr geliebt. Wir wären eine ganz normale, glückliche Familie, doch so war es nunmal nicht. Wie so oft stellte ich mir die Frage, ob ich überhaupt jemals wieder glücklich werden würde.

Ein leises Geräusch riss mich aus meinen Gedanken. War da jemand? Ich schaute mich um. Ich war doch allein zu Hause. War mein Vater wieder zurück? Das kann nicht sein. Er würde erst am Abend wieder kommen, total betrunkenen, denn an Tagen wie diesen klapperte er alle Kneipen in der Umgebung ab.

Ich ging aus meinem Zimmer und schaute mich um. Schon wieder hörte ich ein Geräusch. Die Haustür ging auf und Tia kam herein. Ich sah sie erstaunt an: "Was machst du denn hier? Ich habe gedacht du bist bei einer Frundin." "Ja. Da war ich auch", erwiderte sie, als sie näher kam, "aber Mona muss jetzt für eine Arbeit lernen und ich sollte nach Hause gehen". Dann weitete sie die Augen und sah mich erschrocken an. "Was hast du denn da gemacht?", fragte sie und zeigte auf mein linkes Auge. Erst jetzt bemerkte ich wieder den Schmerz und verzog das Gesicht. Mist! Wie sollte ich ihr das nun erklären? Und mit der Verletzung konnte ich auch nicht in die Schule gehen, die Leute würden mich nur dumm angucken und Fragen stellen. Das würde ich nicht verkraften. Ich kramte in meinem Gehirn nach einer Ausrede auf Tias Frage, die halbwegs plausibel klang, doch mir fiel nichts ein. Ich murmelte etwas Unverständliches vor mir hin und rannte in mein Zimmer. Ich wollte nur noch allein sein, meine Gedanken kreisen lassen. Ich schloss die Tür, lehnte mich gegen sie und ließ mich fallen. Ich konnte nicht mehr. Aber Tia sollte mich nicht so sehen, sie sollte denken, ich wäre stark, sie sollte nicht wissen, wie sehr ich leidete.

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