Ein Leben in Ewigkeit

Therapie

Leo schlug die erste Seite seiner Akte auf und sah eine Art Steckbrief von sich.

Name: Dürer
Vorname: Leonard
Versicherungsumfang: vollumfänglich BWG
...

„Was bedeutet BWG?", fragte Leo die Doktorin, die mittlerweile am Fenster stand und eine Zigarette rauchte. Das Rauchen stand der jungen Frau nicht, fand Leo. Ohne ihren Kittel und mit offenen Haaren stellte er sie sich sehr attraktiv vor. Die Lesebrille hatte sie abgenommen und erst jetzt fielen Leo die saphirblauen Augen auf.

„Bewusstseinsweitergabe. Das was wir auch mit Ihnen gemacht haben", erklärte Dr. Jones während sie den Qualm in der Lunge hielt. Leo war sich nicht ganz sicher, ob er ihre Art lässig oder ein bisschen peinlich finden sollte, selbstbewusst war sie aber auf jeden Fall.

Kommentarlos wandte er sich wieder dem Steckbrief zu.

...
Versicherungsumfang: vollumfänglich BWG
Geburtsort: Hamburg
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Er wollte sich erstmal einen oberflächlichen Überblick verschaffen und überflog deshalb zunächst unwichtige Daten wie Größe oder Augenfarbe.
Auf der zweiten Seite fand er eine Art Laborbericht.
Zwischen vielen Abkürzungen, die er nicht verstand, fand er schon mal seine Todesursache: Autounfall.
Einen erhofften Effekt hatte diese Erkenntnis jedoch nicht auf ihn. Stillschweigend nahm er die Info zur Kenntnis und blätterte neugierig weiter. Die folgenden Seiten enthielten aber auch nicht wirklich detailreiche Daten.
Dr. Jones drückte ihre Zigarette auf der Fensterbank aus und ging auf Leo zu.

„Vieles ist auch Datenschutz und kann gar nicht drin stehen, weil wir es selbst nicht dokumentieren dürfen. Sie hatten großes Glück, dass Dr. Weingarten Sie ausgewählt hat. Sie sind einer der ersten Hundert. Normalerweise melden sich die Patienten selbst an, wenn sie beispielsweise eine tödliche Krankheit diagnostiziert kriegen. Einen Autounfall kann man schwer vorhersagen, Sie sind der erste solche Fall und hatten scheinbar genug in die Versicherung eingezahlt. Trotzdem braucht man Glück bei den vielen Anmeldungen."

„Doktor wer?" Leo wusste, dass er diesen Namen schon mal gehört hatte, aber das Interesse daran war schnell verflogen, denn eine Zeile auf der ersten Seite erregte seine Aufmerksamkeit, die er beim ersten Anschauen übersehen hatte.

...
Familienstand: ledig, keine Kinder
Notfallkontakt: nicht angegeben
...

„DAS KANN NICHT SEIN!", brach es aus ihm heraus, doch Dr. Jones blieb unbeeindruckt.

„Stimmt was nicht?", fragte Dr. Jones trocken, als wäre das nicht offensichtlich gewesen.

„Ich habe eine Frau, ich weiß es. Ich habe eine Frau und eine Tochter, ganz sicher. Wieso steht das hier nirgendwo?"

Dr. Jones kalten Gesichtszüge ließen ein geheimnisvolles Grinsen durchsickern.

„Es wundert mich ehrlich gesagt auch, dass ein Mann wie Sie keine Lebensgefährtin hat."

Leo ignorierte den unangebrachten Flirtversuch bewusst - falls es überhaupt einer war - während Dr. Jones sich auf ihren Schreibtisch stützte und ihren eisernen Blick bis in seine Seele eindringen ließ. Ihre mysteriöse Ausstrahlung wirkte aufregend auf Leo, egal wie verstörend der Moment gerade für ihn war. Doch er musste sich auf das Wesentliche konzentrieren, und das war eine andere Frau, von der er weder den Namen noch das Aussehen kannte, nämlich seine Frau.

„Hier steht nicht mal ein Arbeitgeber oder mein Beruf drin. Was soll ich damit?"

„Herr Dürer, beruhigen Sie sich. Wir machen das alles Schritt für Schritt. Alles werde ich Ihnen aber nicht beantworten können, weil Dr. Weingarten Sie als Patienten ausgewählt hat. Ich bin in erster Linie für meine eigenen Patienten wie Herrn Kruger zuständig, den Sie bereits kennengelernt haben."
Dr. Jones ging einige Schritte durch den Raum, während Leo ihren Kittel musterte, der erahnen ließ, was für lange Beine die Doktorin besaß. Sie deutete auf ein Plakat an der Wand.
„PJW Forschungsinstitut. P für Pink. J für Jones. W für Weingarten. Jeder von uns darf eine gewisse Anzahl an Patienten auswählen. Ist schwieriger, als es sich anhört. Man muss darauf achten, dass Wünsche berücksichtigt werden. Ein Klavierspieler sollte einen Körper kriegen, der noch alle Finger hat, wenn Sie verstehen was ich meine. Amnesie hin oder her, Klavierspielen oder Auto fahren hat bisher noch niemand verlernt. So etwas ist so fest im Unterbewusstsein verankert, dass es bei 100% der Patienten danach problemlos funktionierte. Das wurde wirklich ausgewertet, vorausgesetzt die Patienten spielten ein Instrument oder fuhren Auto. Ist so ähnlich wie das Phänomen, wenn Menschen bei einer OP Geige spielen. Worauf ich eigentlich hinauswollte... Wenden Sie sich nochmal an Dr. Weingarten. Ich schreibe Ihnen mal die Nummer auf."

Dr. Jones übergab Leo einen abgerissenen Zettel mit der Telefonnummer und begleitete ihn zur Tür. Durch ihren dominanten Charakter fiel es Leo schwer, hartnäckig zu bleiben, aber er wäre gerne noch für ein paar Minuten dort geblieben. Schneller als gedacht, stand er draußen vor dem Büro und Dr. Jones zwinkerte ihm noch zu, bevor sie die Tür vor seiner Nase zuschlug.