Kaserne

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„Entschuldigen Sie. Dürfte ich einmal ihr Telefon benutzen?"

Leo stand vor dem Schreibtisch der Empfangsdame mit dem abgerissenen Zettel von Dr. Jones.

„Natürlich, nehmen Sie sich gerne das Telefon meiner Kollegin."

Ohne Zeit zu verlieren, griff sich Leo den Hörer und wählte die krickelig aufgeschriebene Nummer.
Freizeichen. Leo atmete tief durch.
Nach dem fünften Klingeln wurde er langsam nervös.
Das sechste Mal Klingeln.
Je länger er wartete, desto unsicherer fühlte er sich.
Nach dem siebten Klingeln legte er schlagartig auf.
Er fühlte sich komisch, einerseits wollte er unbedingt mehr über sich herausfinden und auf der anderen Seite fühlte er sich unter Druck gesetzt, was nicht einmal an der Mitarbeiterin vom Empfang lag, die neben ihm Unterlagen abheftete und den Eindruck erweckte, sie würde das lieber ungestört von verwirrten Patienten tun.
Vielleicht setzte er sich einfach selbst zu sehr unter Druck und es ginge ihm nach einigen Tagen schon besser.

Leo beschloss, die Angelegenheit für ein paar Minuten ruhen zu lassen und ein bisschen den Kopf frei zu kriegen, indem er durch den Westlügel des Krankenhauses spazierte. Lange sollte er nicht mehr hier bleiben und er war sich sicher, dass er wieder zu sich selbst finden würde, sobald sein Alltag wieder Form angenommen hatte.
Im Laufe des Tages nahm er jede Ecke genauer unter die Lupe, prägte sich eher unbrauchbare Informationen wie die Lage der Notausgänge oder Feuerlöscher ein, nur um seinen Kopf auf Trab zu halten und seinem Gedächtnis im Optimalfall ein bisschen auf die Sprünge helfen zu können. Nichts davon sollte so richtig funktionieren, doch er war erstmal zufrieden durch den Fortschritt und die erhaltene Telefonnummer. Als er sich auf dem Gang befand, auf dem sein Zimmer lag, fiel ihm der Dienstplan ins Auge. Für diesen und die folgenden Tage war ein neuer Stationsarzt für die Visite eingeteilt, nämlich Dr. Steffens, der an diesem Morgen nicht aufgetaucht ist.
Als ihm eine andere Schwester über den Weg lief, fragte er nach, ob sein Zimmer womöglich vergessen wurde.

„Dr. Steffens ist zurzeit nicht im Haus, soweit ich weiß. Der ist mit Dr. Pink zu Verhandlungen in Deutschland. Der Dienstplan wurde wohl nicht angepasst, ich kümmere mich darum", erklärte die Schwester und entnahm den Plan aus dem transparenten Kasten.

Während sie den Zettel zerknüllte und in der Hosentasche verschwinden ließ, fiel ihr noch etwas ein.

„Wo Sie gerade da sind, sie sind doch Herr Dürer? Sie haben heute Nachmittag einen Termin beim MFHH zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft."

„Hm, okay. Und was soll das sein?"

„Ach, die Amnesie, richtig. Das Militär der Freien und Hansestadt Hamburg. Müssten Sie mittlerweile schon mal gehört haben."

„Diese Wehrpflicht, richtig... Das geht schon heute los?"

„Ich schätze nicht, in der Regel gibt es erstmal ein persönliches Einführungsgespräch."

Die Schwester nahm Leo mit zur Rezeption und notierte ihm den Zeitpunkt der Abholung, nachdem sie ihm ein Taxi gerufen hatte. Obwohl Leo nicht begeistert vom Wehrdienst war, sah er dem Termin positiv entgegen. Jede Abwechslung war ihm mittlerweile willkommen und er hatte in der kurzen Zeit gelernt, dass seine Umgebung sich nicht an ihn anpassen muss, sondern er an seine Umgebung.

Als er wenig später ins Taxi stieg, machte sich ein mulmiges Gefühl in Leo breit. Obwohl er sich wirklich darauf freute, die ersten Schritte außerhalb des Krankenhauses zu machen, fühlte er sich niedergeschlagen. Er dachte nicht mehr jeden freien Moment an seine Familie und wo sie gerade sein könnte und machte sich deshalb Vorwürfe. Seine Frau und seine Tochter sollten das einzige sein, das in seinen Gedanken Platz fand und nicht irgendeine schwachsinnige Armee.
Während der gesamten Fahrt war Leo still. Wenn er nicht gerade aus dem Fenster starrte und sich fragte, was für eine komische Route sie nahmen, versuchte er das Schalten des Taxifahrers nachzuvollziehen. Von beidem war er überfordert. Weder kannte er diese Ecke von Hamburg, die aussah wie ein Industriegebiet, noch wusste er, wann man in welchen Gang schalten musste.

Früher als gedacht kam das Taxi auf einer Schotterstraße zum Stehen. Vor Leo befand sich ein Backsteingebäude, das an einen alten Hauptbahnhof erinnerte. Am Eingang standen bewaffnete Wachen vor stacheldrahtbepackten Zäunen, die zwar bedrohlich, doch nicht sonderlich stabil wirkten. 
Nachdem Leo seine Einladung am Empfangshäuschen vorzeigte, durfte er durch ein Drehkreuz eintreten und der mollige Mitarbeiter vom Empfang begleitete ihn in das Gebäude, wo ein offensichtlich höher gestellter Offizier schon auf ihn wartete.

„Herr Dürer! Foster, mein Name. Setzen Sie sich, geht ganz schnell. Bevor Sie Ihren Dienst in meiner Einheit antreten, muss ich ein paar Dinge abklären. Tragen Sie für gewöhnlich eine Brille oder Kontaktlinsen?"

Leo setzte sich auf einen Klappstuhl vor Foster und ließ sich von seinen Fragen überrumpeln.

„Nein. Auch keine Kontaktlinsen."

„Führerschein ist vorhanden, nehme ich an."

„Nein, nicht dass ich wüsste. Als ich eben im Taxi saß, kam mir das Autofahren auch sehr fremd vor."

„Wollen Sie mich auf den Arm nehmen, Herr Dürer? Wenn Sie keine Fahrzeuge benutzen wollen, können wir darüber reden, aber bitte lügen Sie mich nicht an."

„Ich lüge nicht, ich kann wirklich kein Auto fahren. Ich wüsste nicht mal, ob links oder rechts die Bremse ist. Ich könnte nicht mal ein Auto starten, so wenig verstehe ich davon."

„Sie wollen mir also erzählen, dass Sie kein Auto starten können, aber alleine in einem Autounfall gestorben sind? Haben Sie gedacht, ich bin nicht informiert, was neue Rekruten angeht?"

So unsympathisch Leo den Offizier auch fand, hier hatte Foster tatsächlich recht. Wie kann er alleine in einem Autounfall ums Leben gekommen sein, wenn er nicht mal wusste, wie eine Zündung anging?
Seine Gedanken schossen wie Blitze quer durch den Kopf und es fühlte sich so an, als wäre er einem Geheimnis deutlich näher gekommen.
Hatte Dr. Jones nicht gesagt, dass Patienten so etwas niemals verlernen würden? Klavierspielen, Autofahren, Fahrradfahren. Sogar durch Studien wurde das bewiesen.
Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht und Leo wollte herausfinden, was es war.

Ein Leben in EwigkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt