Videobotschaft

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Leo Dürer schlief in der folgenden Nacht zwölf Stunden am Stück und wachte von alleine auf, als es draußen noch dunkel war. Dieses Mal ging es ihm besser und er traute sich zu, selbstständig aufzustehen. Von Übelkeit war nichts mehr zu spüren, er fühlte sich frisch und ausgeschlafen. Er trat nah an die Fensterscheiben und versuchte sachliche Gedanken zu fassen und die Situation irgendwie einzuordnen. Es gelang ihm nicht, doch er konnte sich zunächst - wenn auch ungeduldig - damit abfinden.
Der gestrige Abend wirkte noch wie ein schlechter Traum, zumal Leo bis zum Frühstück von den Krankenschwestern in Ruhe gelassen und nicht aufgeklärt wurde.
Sein Zimmernachbar wurde noch immer beatmet.

Das Frühstück brachte ihm kurze Zeit später die jüngere Krankenschwester vom Vorabend. Er nutzte die Chance, um nach dem angesprochenen Video und dem Konferenzraum zu fragen.

„Es gibt einen Konferenzraum gleich auf diesem Gang. Wenn Sie rausgehen, die dritte Tür auf der linken Seite. Wenn das Licht an der Tür grün ist, dürfen Sie eintreten, bei rot findet darin gerade eine Besprechung statt. Im Raum steht ein Tisch, dort finden Sie eine Fernbedienung und müssen nur auf Play klicken. In der Regel ist der Beamer für die Leinwand permanent auf Standby und wird dadurch aktiviert."

Leo nickte und nahm sich vor, sich erstmal zurückzuhalten, bevor er wusste, was überhaupt vor sich ging. Kaum war die Schwester wieder aus dem Raum, verschlang er sein Frühstück, putzte die Zähne und zog sich an. Er hetzte auf den Gang heraus und sah sofort die grüne Lampe des Konferenzraumes Nummer zwölf. Auf dem Weg dahin wunderte er sich, dass er sich an Kleinigkeiten wie das richtige Zähneputzen überhaupt erinnern konnte, aber nicht an seine Familie.

Im Konferenzraum angekommen lag die Fernbedienung wie angekündigt auf einem hochwertigen Glastisch. Leo schnappte sie sich und setzte sich auf einen der schwarzen Ledersessel, den er in Richtung hintere Wand ausrichtete, die als Projektionsfläche für den Beamer diente.
Während er sich wunderte, wie er sich überhaupt an die richtige Taste dafür erinnerte, betätigte er Play und der Beamer setzte sich in Gang.
Nach einem kurzen blauen Wartebildschirm startete das Video und ein im Labor stehender Mann mittleren Alters erschien vor ihm auf der Wand.

Hallo und herzlich willkommen in Ihrem neuen Leben! Mein Name ist Dr. Pink und ich habe zwei Varianten dieses Videos vorbereitet, bitte entscheiden Sie sich für eine.
Drücken Sie die Ziffer 1, falls Sie lediglich an der Geschichte der Forschung zur Bewusstseinsweitergabe interessiert sind und wissen möchten, welche großen Erfolge unser Unternehmen dahingehend bisher erzielen konnte.
Drücken Sie bitte die Ziffer 2, falls Sie an einer häufig vorkommenden Amnesie leiden und erfahren möchten, wer Sie waren und wie Sie hergekommen sind.

Leo drückte hektisch die 2 auf der Fernbedienung.

Sie haben Option 2 gewählt.
Wer Sie persönlich sind, werde ich Ihnen natürlich nicht beantworten können. Das können wir bei einem Termin aber gerne aufklären, falls nötig. Psychologische Betreuung ist der Schlüssel zur einwandfreien Genesung.
Wenn Sie sich dieses Video ansehen, sind Sie wahrscheinlich schon in der Entlassungsphase. Ihnen stehen nur noch zwei oder drei Nächte zur Beobachtung bei uns bevor und können dann nach Hause und Ihr neues oder altes Leben führen. Denn genau das ist es, was wir hier tun.
Das PJW Forschungsinstitut und das zugehörige Uniklinikum sind die Pioniere im Bereich des ewigen Lebens.
Mittlerweile ist weltweit bekannt, dass der biologische Körper endlich ist, das Bewusstsein jedoch nach jetzigen Erkenntnissen ewig weiterleben kann, wenn man es in einen neuen Träger befördert. Dies kann allerdings nur funktionieren, wenn Menschen ihre Körper dafür zur Verfügung stellen. Vor Jahren mussten daher aus ethischen Gründen alle Bürgerinnen und Bürger bei ihrer Krankenkasse angeben, ob sie dieses ewige Leben wünschen oder nicht.
Der Großteil hat sich überraschenderweise dagegen entschieden, Glück für Sie! Denn nur durch den vorhandenen Überschuss an leblosen Körpern haben wir genug Ressourcen, um ein Bewusstsein wie Ihres in eine neue Hülle zu kleiden. Das klingt makaber, doch es war die freiwillige Entscheidung jedes Menschen. Unser einziges Problem ist, dass unsere rasche Forschung viele Gegner auf den Plan rief. Die meisten Patienten verlieren ihr Kurzzeitgedächtnis in dieser Hinsicht, deshalb erläutere ich den aktuellen Stand kurz.
Wir wurden politisch so unter Druck gesetzt, dass Deutschland sich entscheiden musste. Pro oder contra ewiges Leben. Wie schon gesagt, hat sich der Großteil für contra entschieden und wir mussten ein eigenes Gebiet für diejenigen schaffen, die das Leben lieben und nicht sterben möchten, kurz gesagt einen eigenen Staat ausrufen.
Diese Info überrollt die meisten Patienten, weil das erst vor kurzem passierte und Sie davon gar nichts wissen können, keine Sorge.
Eine Bewusstseinsweitergabe erfordert momentan noch etwa ein Jahr inklusive Wartezeit ehe der Vorgang abgeschlossen ist. In diesem Jahr hat sich sehr viel getan. Die politischen Beziehungen zwischen Hamburg und dem Rest Deutschlands haben sich massiv verschlechtert und wir sind seit Monaten von Grenzen umzingelt, niemand kommt raus oder rein. Meiner bescheidenen Meinung nach liegt das auch daran, dass Deutschland Angst hat, dass ihnen das Volk in Richtung Ewigkeit davonläuft. Glücklicherweise konnten wir ein passables Militär auf die Beine stellen, um unser Volk zu schützen, das zwar ewig leben könnte, aber natürlich nicht wenn alle Forschungskräfte umgebracht oder weggesperrt werden sollten. Zu größeren militärischen Auseinandersetzungen kam es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dennoch bereiten wir uns vor solange dieser Zustand anhält und Deutschland sich uneinsichtig zeigt. Das heißt, dass Sie selbstverständlich in Ihr altes Leben zurückkehren dürfen, aber blockweise zur Wehrpflicht erscheinen müssen. Jede Frau und jeder Mann ab fünfzehn Jahren. Davon abgesehen ist die Welt die gleiche, die Sie kennen. Es ist die gleiche Luft die Sie atmen und der gleiche Regen, den Sie auf ihrer Haut spüren. Nur eben in einer neuen Erscheinung. Viel Spaß im neuen Kapitel Ihres Daseins.

Die Leinwand erstrahlte wieder in einem dunklen Blau und zeigte nur das Datum und den Namen des Beamers an.
18. Januar 2067, tatsächlich.

„Mir ging es genau wie dir."

Leo erschrak, hinter ihm stand jemand im Raum.

„Sorry, falls ich dich gestört habe. Ich habe hier gleich einen Termin mit dem Psycho-Doc und das Licht war grün, deshalb bin ich schon reingekommen. Ich bin Henry."

Ein großer, dunkelhäutiger Mann mit Rastazöpfen schritt auf Leo zu. Trotz seiner Größe besaß er eine warme und ausgeglichene Ausstrahlung, so als könne man sich ihm jederzeit anvertrauen.

„Hey, ich bin Leonard. Jedenfalls haben die mir das gesagt."

Henry nickte sichtlich wissend, in welcher Lage Leo sich gerade befand.
Die Tür ging auf und eine schlanke Frau in weißem Kittel trat ein, die blonden Haare zu einem strengen Zopf zusammengebunden.

„Wer von Ihnen ist Henry Kruger?"

Der Mann hob die Hand.

„Das bin ich. Jedenfalls haben die mir das gesagt." Henry zwinkerte Leo zu.

„Bitte setzen Sie sich, Herr Kruger. Mein Name ist Dr. Jones. Alle die keinen Termin für eine Sitzung vereinbart haben, verlassen bitte den Konferenzraum."

Dr. Jones blickte vorwurfsvoll in Leos Richtung, der ohnehin verstand, dass er gemeint war.

„Hey, Leonard? Wenn du willst, gehen wir später einen Kaffee zusammen trinken. Ich hole dich später ab", rief Henry dem aus der Tür schleichenden Leo noch hinterher.

„Ja. Gerne..."

Leos Kopf hatte auf Autopilot geschaltet, er funktionierte nur noch und tat das, was die Ärzte und Krankenschwestern ihm sagten. Dabei versuchte er zu verstehen, was Dr. Pink in diesem Video erzählte. Gleichzeitig wollte er sein neu gewonnenes Wissen nicht zu nah an sich heranlassen, um nicht direkt weiter in die Irrenanstalt überführt zu werden.
Ein paar Schritte ging er, dann setzte er sich auf die Bank im Flur und atmete tief durch.
Er wollte nicht in sein Zimmer und schon gar nicht in einem Krankenbett liegen.
Ihm gingen einfach zu viele Gedanken durch den Kopf, auf die er sofort Antworten brauchte.

Wenn ich einen neuen Körper habe, bin ich dann schon einmal gestorben?
Weiß meine Familie davon?
Wo ist meine Familie?
Habe ich überhaupt eine Familie?

Da er sich diese Fragen sowieso nicht allein beantworten konnte, nahm er sich vor, an Ort und Stelle auf Henry zu warten. Auch wenn es Stunden dauern sollte...

Ein Leben in EwigkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt