Henry

11 2 1
                                    

Nach circa einer halben Stunde Wartezeit öffnete sich die Tür und Henry verabschiedete sich freundlich von Dr. Jones. Er war sichtlich gutgelaunt, was Leo in Anbetracht ihrer unwissenden Situation überhaupt nicht nachvollziehen konnte.

„Hey! Leonard, richtig? Lass mich raten, das Angebot mit dem Kaffee?"

„Ja, genau. Wenn du Lust hast, würde ich dir gerne ein paar Fragen stellen."

„Klar, mein Terminplan ist hier nicht allzu voll. Lass uns in die Kantine gehen."

Henry kannte sich schon etwas besser im Krankenhaus aus und führte Leo durch die Gänge und Treppen als wäre er bei sich zu Hause. In der Kantine bestellte er sich einen Latte Macchiato und einen Donut. Leo nahm nur einen Espresso, einerseits weil er gerade erst gefrühstückt hatte und andererseits weil ihm die Unsicherheit noch so auf den Magen schlug, dass er einfach keinen Appetit verspürte. Henry suchte sich den Platz am Fenster mit der schönsten Aussicht über den verschneiten Innenhof aus.

„Was möchtest du wissen? Gar nicht so einfach, was?", eröffnete Henry das Gespräch, nachdem Leo Platz genommen hatte.
„Sind wir tot? Also, du weißt schon. Nicht richtig, aber unsere alten Persönlichkeiten?"

Henry grinste von einem Ohr zum anderen.

„Das ist deine erste Frage? Ich hatte vor ein paar Tagen anderes im Kopf, nämlich wer ich überhaupt bin und wo ich herkomme. Dass ich nicht tot bin, sehe ich ja im Spiegel."

„Und hast du es herausgefunden?"

„Ich denke schon. Genau wie du habe ich keine Erinnerung an mein vorheriges Leben, aber damit habe ich mich abgefunden. In meinem alten Körper war ich wohl Gärtner und dieser Berufung werde ich auch jetzt wieder nachgehen. Ich darf hier im Krankenhaus erstmal jobben und dann schaue ich mich bald nach einer Festanstellung um, sobald die Grenzen wieder offen sind. Aber was ist mit dir? Hast du schon einen Plan?"

„Nein... Ich bin heute erst aufgewacht und möchte eigentlich nur wissen, wo meine Familie ist."

Henry sah Leo mitfühlend an.

„Hast du sie vor deinem Tod nirgendwo als Bezugspersonen angegeben? Blöde Frage, wüsstest du ja sowieso nicht."

Es fiel Henry schwer, aufbauende Worte für sein Gegenüber zu finden, der enttäuscht im Espresso herumrührte.

„Vielleicht ist es wie bei mir und deine Familie ist irgendwo in Deutschland. Momentan habe ich keinen Kontakt zu ihnen, Gespräche nach Deutschland sind aufgrund der politischen Konflikte leider nicht möglich. Aber das soll nicht mehr lange anhalten, habe ich gehört. Die finden schon eine Lösung und deine Familie wartet bestimmt schon."

Da war er endlich, dieser eine Strohhalm, an den Leo sich klammern konnte. Wahrscheinlich war es wirklich so und nur diese verdammte Grenze lag zwischen ihm, seiner Frau und seiner Tochter.

„Das ist es, Henry. Du hast mir gerade völlig neue Lebensenergie eingehaucht. Das würde alles erklären. Ich hoffe nur, dass wir nicht im Streit auseinandergegangen sind."

Henry klopfte ihm auf die Schulter.

„Selbst wenn. Es gibt nichts, wofür man sich nicht entschuldigen könnte. Ich hoffe nur für dich, dass die sich an dein neues Aussehen gewöhnen können," lachte Henry.

Es gab also doch noch einen Haken. Was, wenn genau das der Grund war, wieso seine Frau jetzt nicht hier war? Konnte sie sich vielleicht nicht mit den Gedanken anfreunden, neben einem optisch fremden Mann einzuschlafen? Wenn dem so wäre, musste sie vorher gewusst haben, dass Leo stirbt. Aber woran? Vielleicht eine langjährige Krankheit? Wenigstens eine Richtung, in die Leo denken konnte.

„Diese Frau Dr. Jones mit der du vorhin deinen Termin hattest. Könnte die mir sagen, wie ich gestorben bin und wo meine Verwandten sind?", wollte Leo wissen.

„Na klar, dafür ist sie hier. Genau diese Fragen kannst du ihr stellen, die hat alle Unterlagen und ist mehr als gut vorber..."

„Wie erreiche ich sie?", unterbrach Leo ihn.

„Ähm, anrufen oder einfach an ihrem Büro klopfen."

„Sorry, Henry. Du bist echt ein netter Typ, aber lass uns das Gespräch später fortsetzen. Ich brauche jetzt erstmal Gewissheit."

„Klar, kein Thema. Ich weiß doch, wie das ist. Wir sehen uns."

Henry hatte kaum ausgesprochen, als Leo seinen Espresso in einem Zug herunterkippte und vom Tisch aufsprang.
Während er zum Ausgang der Kantine eilte, bemerkte er, dass Henry ihn genauestens im Auge behielt. Doch in diesem Moment interessierte es ihn nicht weiter, er konnte er nur einen klaren Gedanken fassen.
Er musste zu Dr. Claudia Jones.

Ein Leben in EwigkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt