Die Eisdecke unter ihren Füßen trug seit Wochen unzählige Kinder und Familien über den Weiher. Wie Spuren einer großen Schreibfeder zogen sich die weißen Linien der Schlittschuhe über das Eis und zauberten ein Muster aus Winter und Erinnerungen.
Lorena kam oft hierher, um dem Tanz der Menschen eine Melodie zu geben. Jeder Ton, den sie von den Saiten ihrer Geige lockte, löste das Gewirr aus Gedanken und Worten in ihrem Kopf. Die Frostluft bemächtigte sich schleichend Lorenas Bewegungen. Ein Kind stürzte auf dem Eis und begann zu weinen. Lorena senkte ihre Violine. Sie musste los. In einer dreiviertel Stunde begann das Vorspiel. Die letzte Stufe auf dem Weg zu ihrem Musikstudium. Sie zog den Reißverschluss des Geigenkastens zu. Zärtlich strichen ihre Finger über den Stoff. Fast bedauerte sie es, sich heute für das Klavier entschieden zu haben. Aber zu viele der Bewerber*innen spielten Geige.
Lorenas Auftritt war einer der letzten. Wie eine Sammlung Notenköpfe blickten ihr die Gesichter aus dem Saal entgegen. In der vorderen Reihe die Juroren.
Lorena setzte sich an das Klavier. Ihre schwitzigen Finger ließen nicht mehr erahnen, dass die Kälte sie versteift hatte. Lorena zog an ihrer Unterlippe. Es war schon lange her, dass ein Publikum ihrem Klavierspiel gelauscht hatte. Geige ja, aber Klavier?
Sie faltete die Noten aus und strich über die Tasten, dann spielte sie den ersten Ton. Lorenas Augen huschten über die Noten, erfassten Punkt um Punkt und verwandelten die schwarzen Köpfe in ein Lied. Mit jeder Taste, die sie anschlug, wuchs ihre Angst, sich zu verspielen.
Ein Ton entging ihr, Lorenas Finger verhaspelten sich und der Takt entglitt ihren Händen.
„Genug!" Ein Mann aus der vorderen Reihe hob seine Hand. Er schüttelte den Kopf. „Erwarten Sie, dass wir Sie mit dieser Leistung annehmen? Eine einfache Geigerin, die für Kinder am See spielt, würde ich da bevorzugen. Der Nächste." Er senkte seinen Blick auf das Papier vor ihm.
Lorena erhob sich. Eine einfache Geigerin am See. Sie spielte doch... „Noch eine Chance. Bitte geben Sie mir noch eine zweite Chance." Bevor der Mann ihr antworten konnte, stand Lorena hinter der Bühne. Sie befreite ihr Instrument aus dem Geigenkasten, stimmte es und war wieder zurück.
Ein Lächeln breitete sich auf Lorenas Gesicht aus. Sie schloss die Augen. Es war still. Dann vibrierte der erste Ton durch ihren Körper. Ihre Finger folgten keinem Notenblatt. Sie spielten ohne Lorenas Zutun, tanzten über die Saiten, wirbelten eine Melodie in die Luft und gaben der Spielerin das Gefühl, zu schweben. Die Töne formten Bilder. Wintererinnerungen füllten den Raum und erfassten die Herzen der Menschen.
Die Letzten Takte fluteten den Saal. Mit Getöse applaudierte die Menge. Der Herr aus der vorderen Reihe erhob sich. Hätte Lorena lieber die Erlaubnis abwarten sollen? Er stieg zu ihr auf die Bühne. Einen kurzen Blick warf er den anderen Jurymitgliedern zu, dann streckte er Lorena seine Hand entgegen. Er lächelte und in seinen Augen glitzerten die Scheinwerfer. Lorena atmete aus und erwiderte seine Händedruck.
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Kurzgeschichten [Sammlung]
Storie breviHier sind verschiedene Kurzgeschichten. Ich schreibe sie als Übungen, sie sind sicherlich nicht perfekt, konstruktive Kritik und Feedback ist herzlich willkommen! :)