Kapitel 11

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Die acht Schüler sahen sich unsicher an, überlegend. Alle hofften inständig, dass dies ein Scherz gewesen war. "Na worauf wartet ihr?", krächzte die Seherin. Ein Junge mit gelbem Umhang, einer der Abschlussschüler, schritt zur Wand und rüttelte an einem der glänzenden Kristalle. Dieser rührte sich nicht.

Tyara lief zu einer Stelle, wo bereits ein paar der Edelsteine abgebröckelt waren. Ein mittelgroßer, weiß funkelnder Kristall hing noch halb an der Wand. Ein Teil war schon abgebrochen worden. Tyara stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen. Mit einem lauten Knirschen gab er nach und fiel mit Tyara im Schlepptau zu Boden.

Ein wenig erschöpft rappelte sie sich wieder auf. Der ältere Junge und, dem Rock nach zu urteilen, eine Zweitklässlerin machten sich bereits auf den Weg aus der Kristallhöle, hinauf und zur Oberfläche.

Tyara lief ihnen hinterher. Als sie die dicke Holztür hinter den anderen passiert hatte, war das schwache Leuchten der Kristalle nicht mehr zu sehen. Es war stockdunkel. Vorsichtig, und mit hämmerndem Herzen, machte Tyara einen Schritt. Warum musste denn ausgerechnet sie hier unten sein? Konnte es nicht irgendjemand anderes sein? Und wieso musste es so dunkel sein?

Das rhythmische Wummern ihres Herzens schien sich auszubreiten, den Tunnel zu füllen und von den Wänden wieder zu hallen.
Verzweifelt versuchte Tyara nicht in Panik auszubrechen. Und doch huschten raschelnde Wesen in der Dunkelheit umher. Ihre Fantasie ging eindeutig mit ihr durch. Tief atmete sie ein und wieder aus. Die Luft, die ihre Lunge füllte, fühlte sich staubig und trocken an. Die Spucke wich aus ihrem Mund und ließ ihn trocken zurück.

Plötzlich traf sie etwas von oben. Erschrocken zuckte Tyara zusammen und wich zurück, wobei sie gegen die Tunnelwand prallte. Dann ging ihr auf, dass es nur ein Wassertropfen war. Immernoch erschrocken befühlte sie mit leicht zittrigen Händen die nasse Stelle auf ihren Haaren.

Tyara drehte sich in eine Richtung und lief weiter, eine Hand an der Höhlenwand, die andere nach vorne ausgestreckt. Die Schatten in der Dunkelheit tanzten vor Tyaras Augen. Sie versuchte sich einzureden, dass dort nichts war. Wie konnte es Auri nur in ewiger Finsternis ertragen?

Tyara schloss die Augen. Es war mit einem Mal viel erträglicher. Die Panik, die sie zu überschwemmen gedroht hatte, rückte von ihr ab. So konnte sie sich einreden, am helllichten Tag draußen zu sein, obwohl sie es natürlich besser wusste.

Die ausgestreckte Hand stieß gegen kantigen Fels. Tyara sank ein Stück ab. Sie war in eine Sackgasse gelaufen. Verzweiflung packte sie. Das durfte doch nicht wahr sein! Sie hatte sich verlaufen. Würde sie je wieder hier raus kommen? Würde sie je wieder das Tageslicht sehen?

Tyara wollte weinen. Aber sie durfte nicht aufgeben. Sie öffnete die Augen. Wie eine Welle schlug die Dunkelheit über ihr zusammen. Schnell schloss sie die Augen wieder. Tyara riss sich zusammen. Sie würde hier rauskommen. Sie musste einfach!

Sie lief zurück. Immer schön langsam. Plötzlich war die Wand an ihrer Hand weg. Tyara kippte zur Seite und fiel hin. Mit schmerzverzehrtem Gesicht hielt sie sich das Knie. Als sie ihre Finger davon löste, klebten sie. Sie klebten von Blut. Es war ihr alles egal. Sie wollte nur hier raus. Der Widerwillen hier unten in diesen gottverlassenen Tunneln festzustecken gab ihr neue Kraft.

Tyara öffnete die Augen, rappelte sich auf und hinkte weiter. Der Schmerz pochte in ihrem Bein. Das Schleifen ihres Fußes hallte gespenstisch in den Gängen wieder.

Auf einmal sah sie Licht. Tyara rieb sich die Augen. Tatsächlich. Sie gelangte in einen großen Hohlraum, wie die Kristallhöhle. Nur waren hier keine Kristalle. Hoch in der Decke, die wie eine Kuppel geformt war, war ein Riss, durch den Licht hier hinunter drang. Schöne gelbliche Sonnenstrahlen kämpften sich zum Tunnelboden.

Doch Tyara war nicht erleichtert. Sie erstarrte. Eine gebeugte Gestalt, die in einen schwarzen Kaputzenumhang gehüllt war, stand in der Mitte des Raumes. Sie hatte Tyara den Rücken zugewand. Das Mädchen wagte nicht zu atmen. Die Gestalt stand vor einem riesigen, in allen Farben des Regenbogens leuchtenden Kristall.

Der Edelstein war größer als Tyara. Die Person stand mit seitlich erhobenen Händen davor. Sie hatte Zeige- und Mittelfinger gekreuzt. Ihre Hände waren spindeldürr und weiß wie Knochen. Das Schauspiel war wunderschön und angsteinflößend zugleich. Warum war Tyara nur mitgekommen? Wieso hatte man sie hier ausgesetzt? Wieso konnte sie sich nicht bewegen und nur mit aufgerissenen Augen die Kapuzengestalt anstarren?

Tyara machte einen Schritt rückwärts. Das Geräusch malmender Steinchen erfüllte den Raum. Langsam, wie in Zeitlupe, drehte sich die Gestalt um. Tyara sog scharf die Luft ein. Ein paar stechender, blauer Augen starrte sie aus den Schatten der Kaputze an. Das Gesicht war nicht zu erkennen.

Der Moment zog sich eine Ewigkeit. Tyara konnte sich nicht bewegen. Sie konnte nicht schreien, nicht wegrennen. Sie fühlte sich, als würde sie sich durch Sirup bewegen. Die Gestalt verharrte noch einen Moment, dann drehte sich sich um und verschwand in einem Tunnel gegenüber.

Tyara stand noch immer da. Sie wollte nicht hier bleiben. Aber noch weniger wollte sie in die Tunnel zurück. Was würde die Gestalt mit ihr machen, wenn sie sie fand?
Tyara wäre am liebsten in irgendein Loch gekrochen und dort geblieben. Aber sie musste hier raus.

Sie ging schnellen Schrittes zurück in den Tunnel, in dem Versuch leise zu sein. Sie bog nach rechts ab, dann nach links, zweimal nach rechts, dann wieder nach links. Tyara lief schneller. Sie musste doch bald an der Oberfläche sein. Sie rannte in vollem Tempo gegen eine Wand.

Durch den abrupten Aufprall wurde sie zurückgeschleudert und landete hart auf dem Boden. Tyara schlang die Arme um die Knie und wollte weinen. Doch es kamen keine Tränen. Sie blieb sitzen. Es war ihr egal, ob sie letzte wurde. Sie wollte nicht mit auf diese Reise gehen. Sie wollte hier im Dorf bleiben. Schluchzend stützte sie den Kopf auf ihre Beine. Doch auf einmal fiel ihr die Gestalt wieder ein. Adrenalin schoss durch ihren Körper. Die Angst wich zurück und machte eiserner Entschlossenheit platz. Sie würde das schon irgendwie schaffen!

Schnell lief Tyara zurück und bog dann nach rechts ab. Es ging jetzt steil bergauf. Tyara kam allmählich ins Schwitzen. Und dann, endlich. Licht. Ja, Licht! Tyara lief halb auf allen Vieren.
Der Gang mündete in einen der dunklen, gefliesten Gänge der Schule. Auri, die gerade dazustieß,und ein paar der Meister erwarteten sie bereits.

"Tyara", grüßte sie Meisterin Dorya. "Du bist auch schon da. Mein Glückwunsch. Kommen Sie mit mir." Meisterin Dorya nickte den anderen Meistern zu und Schritt davon, gefolg von der erschöpften Tyara.

Die Legende der DrachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt