49/ Die Zeit heilt alle Wunden.

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Dad und ich hatten uns den Morgen frei genommen. Und auch Pippa saß nun mit uns zusammen am Frühstückstisch. Lucy hatte königlich aufgetischt und ich hatte schon lange nicht mehr so ausgiebig gefrühstückt. 
Es fehlte nichts. Wir hatten Eier, Toast, Pancakes, Müsli, Obst, Gemüse und genügend Aufstrich für eine ganze Armee. Es war als wäre ein Teil von Mom wieder hier und ich wusste nicht ob ich lachen oder weinen sollte. 
Mittlerweile hielt ich meinen dritten Kaffee in den Händen und musterte Lucy, die eine ganze Weile schon versuchte etwas zu sagen. Dad musterte sie ebenfalls mit gerunzelter Stirn. Sorgenvoll sah er sie an. "Lucy." Ermahnte er sie nach einer Weile. "Ich werde nicht jünger. Raus mit der Sprache." Bat er ungeduldig. Langsam beugte ich mich zu ihm herüber und drückte seine Hand. "Dad. Nicht." 
Pippa lächelte aufmunternd, doch ihr Gesicht hatte einen verkrampften Ausdruck. Sie dachte vermutlich das gleiche wie ich. Fürchtete sich vor dem gleichen wie ich.
Denn egal wie stark sich Pippa immer gab. Das hier war Lucy. Und wir würden es nicht verkraften, wenn Lucy uns sage würde, wovor wir uns am meisten Fürchteten.
Lucy blickte Dad an. Lächelte sanft. Als würde das ihre Worte besser machen. "Ich war vor ein paar Wochen beim Arzt. Wegen einer..." Sie holte tief Luft. "...Unregelmäßigkeit." Er erstarrte. Auch er dachte an Mom. Daran wie es bei ihr mit einer kleinen Unregelmäßigkeit angefangen hatte. 
"Ich ließ eine Biopsie machen." Dad blickte Pippa an. "Bist du deswegen nach Phoenix geflogen?" Wollte er wissen. Pippa nickte. "Die Auswertung hat eine Weile gedauert." Führte Lucy weiter aus, ignorierte seine kleine Unterbrechung und trieb mich in den Wahnsinn. Sie war die perfekte Geschichtenerzählern. Schmückte alles aus. Und die dramatischen Pausen hatte sie auch drauf.
"Ich habe die Ergebnisse am Donnerstag bekommen und bin dann direkt hergekommen." Redete sie weiter ich nickte leicht. Ich wollte sie nicht drängen, doch ich wollte auch nicht länger warten. "Die Biopsie war positiv. Es wurden Krebszellen gefunden." Dad keuchte auf. Seine Arme rutschten vom Tisch. Ausdruckslos starrte er Lucy an. In seinen Augen ein furchterregendes Glitzern. "Doch der Arzt ist sich sicher, dass er nicht gestreut hat. Die Lymphknoten sind nicht betroffen. Ich habe ein sehr frühes Stadium." Erklärte sie weiter.
"Die Chancen, dass sich der Tumor durch eine Operation entfernen lässt, rückstandslos, liegen bei fast 80%." Ich atmete erleichtert aus. Zahlen. Fakten. Damit konnte ich etwas anfangen.
Doch mein Dad wirkte noch immer so verstört. Lucy musterte ihn. "Ich habe am Dienstag einen Termin hier. Bei dem Facharzt der auch Moms Therapie durchgeführt hat." Redete Lucy weiter. "Es ist keiner der aggressiven Sorte." Versuchte sie zu Dad durchzudringen, doch er reagierte nicht. Langsam beugte ich mich vor und griff wieder nach seiner Hand. "Dad?" Fragte ich ihn leise. Blinzelnd wandte er mir den Blick zu. Als würde er aufwachen, sah er Lucy wieder an. "Habt ihr das gewusst?" Fragte er erst mich, dann Pippa. Ich schüttelte den Kopf. Auch Pippa verneinte. "Ich hatte so ein Gefühl, deswegen bin ich nach Arizona. Doch vom Befund wusste ich auch nichts." Versicherte Pippa ihm.
"Ich werde dich begleiten." Sagte er dann an Lucy gewandt. "Es ist gut das du nach Hause gekommen bist." Fügte er hinzu. "Ich werde mehr an Ryan abgeben. Dann..." Lucy schüttelte den Kopf. "Das ist nicht nötig." Beharrte sie, doch Pippa, Dad und ich waren uns hier einig. "Doch das ist es." Sagte ich fest. Und mir fiel auf, wie stark Lucy war. Denn es machte mir eine höllische Angst. Und auch Dad sah aus, als machte er sich fast in die Hosen. Doch Lucy blieb ruhig. Seltsam gelassen. Als würde es hier nicht um sie gehen.
"Gut." Sagte sie und lächelte uns an. Einen nach dem anderen. Als würde sie das für uns tun. Dann blickte ich auf den Tisch. Das Essen verursachte mir plötzliche Übelkeit. Die Ungewissheit war weg. Doch ich wusste nicht ob das nun gute oder schlechte Nachrichten waren. Vermutlich waren es weder die Besten, noch die Schlechtesten. "Ich werde das Grillfest absagen." Sagte plötzlich Dad und wollte schon aufstehen. "Das wirst du nicht!" Rief Lucy. "Ich habe mich schon darauf gefreut." Fügte sie hinzu, als wäre das eine total absurde Idee. "Lucy hat recht. Das ist Tradition. Wir werden wie immer im Garten grillen." Pippa klang geschäftsmäßig. Doch das leichte Beben konnte ich trotzdem hören. 
"Was willst du heute machen?" Fragte ich Lucy und sie lächelte. "Vielleicht gehe ich etwas spazieren." Sagte sie und plötzlich lachte Dad auf. Ein kaltes, bellendes Lachen. "Tun wir einfach so, als hätte Lucy keinen Krebs?" Fragte er perplex. Er erhob sich und fuhr sich durch die Haare. Dann wandte er sich ab und verließ den Raum. Wir drei sahen ihm nach. 
Kurz wechselten wir einen Blick, bis Pippa sich erhob. "Ich rede mit ihm." Dankbar nickte ich. Denn ich wusste nicht was ich ihm sagen sollte. Ich wusste selbst nicht was ich fühlen oder denken sollen. Doch ich vertraute Lucy. Und ich vertraute darauf, dass sie uns nicht anlog. Das sie uns sagen würde, wenn es sehr ernst wäre. Ich vertraute darauf. Eine andere Wahl hatte ich nicht. 
"Möchtest du mit ins Stadion?" Fragte ich Lucy als Pippa den Raum verlassen hatte. "Heute nicht. Ich möchte nur ein wenig raus gehen." Antwortete sie mir mit einem Lächeln. "Wenn du nichts dagegen hast, würde ich ein wenig in deiner Wohnung räumen? Das lenkt mich etwas ab." Vermutlich hätte ich ihr nichts abschlagen können, also nickte ich. Und dann erhob ich mich. "Aber übertreib es nicht." Bat ich sie und lächelte. "Ich muss los." Sagte ich noch, steuerte die Tür an und hörte noch bevor ich rausging, wie Lucy sagte: "Man als Cavalier hat man echt nie mal frei, was?" 
Am liebsten hätte ich gelacht. Denn sie hatte Recht. Nein, man hatte nie frei. Man war ein Cavalier mit Haut und Herz. Vor allem aber im Moment war man voll eingespannt. Und auch als Cavalier wollte man manchmal einfach das Haus verlassen. Doch in meinem Fall, hatte ich nur die Wahl zwischen Pest uns Cholera. Entweder sah ich Lucy, meine kleine Schwester, die Krebs hatte. Einfach Krebs. Und vielleicht daran sterben würde, auch wenn sie sagte sie würde es nicht. 
Oder ich sah Anton. Den Mann dem ich einfach nicht entkommen konnte. Der mich verrückt machte. Auf gute und schlechte Weise. Von dem ich mich fernhalten musste, weil es besser für uns alle wäre. 
Als ich drüben, in meiner Wohnung, war sprang ich schnell unter die Dusche und stand dann vor meinem Schrank. Am liebsten wollte ich in Jogginghose und Pulli bleiben, doch das war zu viel des Guten. Doch in einem mutigen Moment entschied ich mich gegen einen Hosenanzug und schlüpfte in eine Bluejeans.  Sie saß eng. Ich mochte sie und fragte mich ernsthaft, warum ich sie so lange nicht mehr an gehabt hatte. Eine dämliche Frage. Denn ich hatte auf der Arbeit immer die langweiligen Hosenanzüge an. Das war mein Markenzeichen.
Zusammen mit einer schwarzen Bluse stellte ich mich vor den Spiegel. Doch auch auf eine aufwendige Frisur hatte ich keine Lust. Deswegen kämmte ich mir meine Haare und ließ sie lang und seidig über meine Schultern fallen. 
Ich sah erfrischt aus. Als hätte das ganze Geheule gestern meine Energiereserven aufgefüllt. Als hätte mir die Tatsache, dass ich nun etwas in der Hand hatte, was Lucy anging, mir einen eigenartigen Glanz verpasst. 
Mit mäßig guter Laune, und flauen Gefühl, stieg ich in meinen Wagen und fuhr zur Arbeit. An den Ort, der mich immer an Anton erinnerte. Doch die Zeit würde alle Wunden heilen. Und solange ich mir das nur einredete, würde es stimmen. Und vielleicht würde ich es irgendwann auch wirklich glauben. Wenn ich es nur oft genug sagte. 

Ein Cavalier zum FrühstückWo Geschichten leben. Entdecke jetzt