Warten

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Sobald ich meine Augen öffnete, wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Es war nur ein seltsames Gefühl, aber ich fühlte mich augenblicklich unwohl. Ich drehte mich langsam im Bett um und sah zur Küche. Niemand war dort. Also zog ich mir die dünne Decke über den Kopf und stand auf. Es war kalt geworden. Immer noch verschlafen tapste ich barfuß zum Tisch, der sich mitten in der Küche befand. Grundsätzlich wusste jeder, dass die Menschen im Untergrund nicht viel hatten, aber auch hier konnte ich bestätigen, dass wir es am Schlimmsten hatten. Unsere Wohnung bestand aus vier Räumen, dem Schlafzimmer, dass sich meine Mutter und ich teilten, da wir nur das eine rustikale Bett besaßen, dem Badezimmer, in dem gerade mal ein Nachttopf und eine Badewanne vorhanden waren, die Küche, in der nur ein klappriger Tisch und zwei Stühle standen. Einen alten Herd hatten wir auch und ein paar dreckige Teller, aber der Herd funktionierte meistens nur schwach oder gar nicht und die Teller waren so stark mit Schmutz überzogen, dass wir meistens lieber aus unseren Kochutensilien aßen. Und dann war da noch der vierte Raum. Ich wusste nicht, wozu er diente oder was in diesem Zimmer war. Alles, was mir von Mama klar gemacht worden war, war, dass ich diesen Raum unter keinen Umständen betreten durfte. Auch das war etwas, worum ich seit geraumer Zeit rätselte. Vielleicht würde ich irgendwann erfahren, was sich hinter der morschen, grünen Tür befand, genau so, wie ich von Mamas Arbeit erfahren hatte.

Da ich gestern schon ein neues Kleidungstück von Mama bekommen hatte, musste ich mich nicht umziehen. Ich ging rasch zum Wasserhahn, der im Badezimmer an der Wand angebracht war und wusch mein Gesicht. Dann sah ich mich nach etwas Essbarem um. Durch all die Ereignisse des gestrigen Tages war ich hungrig geworden, stärker als zuvor. In dem kleinen geflochtenen Korb neben unserem Herd lag eine alte Packung mit Reiskeksen. Ich nahm mir zwei aus der Schachtel und steckte sie mir in den Mund. Auch wenn es sehr wenig war, wusste ich es zu schätzen, da das ungefähr einer Tagesration entsprach. Sobald ich aufgegessen hatte, entschloss ich mich dazu, nach Mama zu suchen. Ich wusste, dass es beim letzten Mal nicht gut ausgegangen war, aber ich machte mir Sorgen um meine Mutter. Und das mulmige Gefühl in meinem Bauch blieb an Ort und Stelle. Also brachte ich die Decke zurück in das Schlafzimmer und schlich vorsichtig nach draußen. Die Straßen waren ungewöhnlich leer. Jedenfalls musste ich jetzt nicht so stark aufpassen, wie als wären hier gehäufte Menschenmassen. Ich überlegte, wo ich anfangen sollte zu suchen. Geh zurück an den Ort, wo du sie gestern gefunden hast. Sie ist mit Sicherheit dort, so wie sie dich gestern angelogen hat... Manchmal hasste ich die Stimme in meinem Kopf, obwohl ich wusste, dass sie recht hatte. Wo sollte Mama sonst sein? Einkaufen war sie wohl nicht, dafür reichte unser Geld nicht aus. Ich atmete tief ein und aus und lief dann los. Je weiter ich kam, desto unwohler fühlte ich mich. Dieses verdammte Gefühl in meinem Bauch wollte einfach nicht verschwinden. Ich begegnete niemandem auf meinem Weg, ich sah auch niemanden in den Fenstern. Ich find an, schneller zu laufen und dann zu rennen. Ich wollte Mama finden und dann ganz schnell wieder nach Hause, wo es sicher war. Panik stieg in mir hoch, als ich erneut an die Gruppe von Mördern dachte. Mein Atem wurde schneller. In ein paar Schritten bog ich um die nächste Ecke, nur um fast zu Boden zu fallen. Ich befand mich nun auf dem Platz und musste eigentlich nur wenige Straßen weiter, um zu dem Haus zu kommen, wo... Es gestern passiert war. Aber so weit musste ich folglich nicht mehr.

Aufs Neue musste ich mit ansehen, wie eine Prügelei stattfand. Normalerweise ekelte ich mich vor diesen Menschen, beachtete sie aber nicht weiter und verschwand so schnell wie möglich. Nicht heute. Diesmal war alles anders. Es waren die gleichen Männer wie gestern und die Person, die am Boden lag und aus einer Platzwunde am Kopf blutete, war niemand geringeres als meine eigene Mutter. ,,M-Mama...?'' Meine Stimme war so leise, dass ich mich selbst fast nicht hören konnte. Meine Augen verfolgten reglos das Geschehen. Die Faust des Mannes hämmerte immer wieder auf den fragilen Körper meiner Mutter ein und ich konnte das Zerbersten der Knochen hören. Ich wusste, dass wenn ich jetzt nichts tat, würde sie sterben, vor meinen Augen. Und dann wäre ich der Nächste. ,,Aufhören, bitte!'' Ich war mir in diesem Moment bewusst, diesen Aufschrei nach Hilfe würde ich mein Leben lang nicht vergessen. Das Blut begann, in meinen Ohren zu rauschen, während sich mein Puls beschleunigte. Die Panik verwandelte sich augenblicklich in rasende Wut. Ohne weiter nachzudenken und die Entscheidungen abzuwägen, stürmte ich los, auf die drei Menschen zu. Was ich vorher nicht bemerkte, war, dass sich alle Menschen rund um den Platz versammelt hatten. Sie taten nichts, sondern sahen nur interessiert zu, manche wagten es sogar, zu lachen. Mein Unterbewusstsein prägte sich jede ihrer hässlichen Visagen ein. Ich schwor mir, ich würde sie alle irgendwann bestrafen, dafür, dass sie meiner Mutter beim hilflosen Kampf gegen diese Männer zugesehen haben. Auf dem kurzen Weg zu meiner Mutter ergriff ich einen Metallstab, der zuvor achtlos auf den Boden geworfen war. Sobald ich die Mörder erreicht hatte, holte ich mit Schwung aus und schlug demjenigen, der sich über Mama beugte, den Stab auf den Hinterkopf. Ein dumpfes Geräusch ertönte und der Mann brach zusammen. Sein Körper begrub meine Mutter unter sich, während Blut aus der entstandenen Wunde tropfte. Ich drehte mich um, um dem Nächsten einen Schlag zu versetzen, aber ich war zu langsam gewesen.

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