Tränen

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Keuchend erreichte ich unser Haus. Ich riss die Tür auf, rannte in das heruntergekommene Schlafzimmer und versteckte mich unter dem Bett.
Dann kamen erst die Tränen. Sie strömten unaufhaltsam mein Gesicht hinunter, während ich mich schluchzend an die hinterste Ecke drückte. Erneut und immer wieder kamen Panikschübe in mir hoch. Was, wenn diese Leute mich finden? Was, wenn sie unser Haus stürmen? Was, wenn sie mich umbringen? Was, wenn...
Also saß ich hier, eine gefühlte Ewigkeit lang, und wartete darauf, dass unsere Haustür aufgebrochen wurde. Jedes kleinste Geräusch ließ mich zusammenzucken, obwohl es nur die Ratten im Gewölbe waren oder der Wind, der die Fensterläden klappern ließ. Langsam fehlte mir die Kraft, meine Beine festzuhalten und meinen Körper anzuspannen. Ich fiel in mich zusammen und lag reglos auf dem Boden. Nur ab und zu rollte noch eine Träne über meine dreckige Wange und tropfte auf den Boden. Trotz der schrecklichen Bilder, die mir durch den Kopf schossen, schlief ich aus Erschöpfung ein.

Schritte und gerufene Wörter weckten mich aus meinem unruhigen Schlaf. Ich hatte geträumt. Geträumt davon, wie diese Männer mich fanden, mich unter dem Bett hervorzogen und mir die gleichen Dinge antaten wie der fremden Frau. Ich hatte mich verzweifelt gewehrt gegen den starken Griff des Mannes, der die Rothaarige umgebracht hatte, nachdem er mich am Hals gepackt und mich gegen die Wand gedrückt hatte. Dann hatte er sein widerliches Messer zur Hand genommen und es an meine Hauptschlagader angesetzt und dann..
,,Levi!! Levi, wo bist du?" Ich schreckte zusammen.
Das war die Stimme von Mama. In diesem Moment sehnte ich mich nach ihrer Wärme und ihren Geschichten. Aber natürlich kamen die Erinnerungen an das Geschehene hoch. Sofort war ich angeekelt und eine Gänsehaut kroch über meinen Rücken.
,,Levi, bitte sag doch etwas. Ich mache mir solche Sorgen! Levi, bitte!!", rief meine Mutter verzweifelt. Ich erkannte ihre Panik in der Stimme, die gleiche Panik, die vorher in meiner Stimme war. Also entschloss ich mich dazu, aus meinem Versteck zu kommen. ,,M-Mama..?" Da ich aus lauter Eile vergessen hatte, die Türen im Haus zu schließen, konnte ich auf Mamas Rücken starren. Sie drehte sich um und ihre Haare schwangen in ihrer Bewegung mit. ,,Levi, da bist du ja!!" Ihr besorgter Blick änderte sich schlagartig. Ich hörte nur ihre schnellen Schritte auf dem Boden, ich sah ihren dünnen Körper, der sich auf mich zubewegte. Dann schlangen sich ihre Arme um meinen zitternden Körper. ,,Oh Levi.. Ich.. Es tut mir leid, ich wollte nie, dass du siehst, was vorhin geschehen ist. Das ist nicht mein Job, verstehst du? Ich.. Ich habe nur eine Pause gemacht. Wirklich." Ich konnte ihr nicht mehr glauben. Die Rothaarige hatte mir bestätigt, dass Mama diesen Job nicht nur einmal erledigt hatte. Ich nahm meinen Mut zusammen.
,,Mama, hör auf, mich anzulügen. Das stimmt nicht."
Ich sah, wie sich etwas in ihren Augen änderte, mit denen sich mich fixierte. Aber gleich darauf verschwand dieses Etwas. ,,Was.. Was meinst du? Ich lüge nicht, Levi. Ich bin deine Mutter, ich würde dich nie belügen, das weißt du doch." Sie tat es wieder. Die Anzahl von Lügen stieg weiter, während dieser vermaledeite Tag seinen Lauf nahm. Oder war es schon Nacht? Normalerweise konnte ich den Unterschied fühlen, aber in diesem Moment konnte ich mir nicht beweisen, um welche Tageszeit es sich handelte. Mein Kopf war unglaublich schwer und es fühlte sich an, als wäre er mit Watte ausgestopft. Nur in meiner Brust regte sich etwas. Es war.. Wut..?
Ich wunderte mich über meine eigenen Gefühle. Ich war nie auf meine Mutter wütend gewesen. Ich hatte schließlich auch nie einen Grund dazu. Aber jetzt hatte ich ihn.

,,Bitte hör auf. Bitte. Mir wurde gesagt, dass du das schon länger machst. Und.. dann waren da auch noch diese Leute. Weißt du, ich habe mich verlaufen. Und dann hat mir eine rothaarige Fremde geholfen, sie hat mir etwas über dich erzä-" Mama unterbrach mich ruckartig. ,,Was hat sie dir erzählt, Levi? Sag's mir!" Ich sah sie verwundert an. Ich war doch gerade dabei gewesen, ihr über das Bescheid zu geben, was mir passiert war. Ich musste mich überwinden, nicht wieder zu weinen, ich hatte immer noch furchtbare Angst, dass diese Mörder herkamen und ihr nächstes Opfer in mir, schlimmstenfalls in Mama sehen würden. ,,Also.. Da- Da war eine Gruppe von unheimlichen Männern und.. und als sie mich nach Hause bringen wollte, haben, haben... Da haben sie ihr ein Messer in den Hals gestochen.." Ich konnte die Tränen nicht stoppen. Erneut brannten meine Augen und abgehackte Schluchzer kamen meinen Hals hoch gekrochen. Ich erwartete, dass Mama mich in den Arm nahm und mich beruhigte. Aber das tat sie nicht.

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