Alter Freund

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Kenny saß auf einem der Stühle vor mir und versuchte mit angestrengter Miene, meine Wunde zu versorgen, die ich mir zugefügt hatte. Unser regelmäßiges Training führte oft zu Verletzungen, aber ich hatte mich daran gewöhnt. Nichts konnte mich davon abhalten, den perfekten Umgang mit dem Messer zu erlernen, kein Preis war mir zu teuer. Mittlerweile war ich älter geworden, trotzdem war ich nicht sonderlich gewachsen. Da ich nie von etwas Derartigem erfahren hatte, musste mir Kenny den Sinn und Zweck eines Geburtstages erklären, warum er gefeiert wurde und wieso man sich glücklich schätzen musste, jedes Jahr einen weiteren erleben zu dürfen. „Ich kann dir nicht sagen, wann ich geboren worden bin. Gefeiert haben wir nie, dafür gab es einfach keinen Grund, und zu arm waren wir sowieso. Mir hat nie jemand etwas gesagt, oder sich etwas anmerken lassen. Ich glaube, es war auch niemandem wirklich wichtig.." Meine Stimme wurde etwas leiser, da die Erinnerungen an die vergangene Zeit mir Leid zufügten. Laut dem Mann, der mir damals das Leben gerettet hatte, mussten schon um die fünf Jahre vorbeigezogen sein, seit ich ihm Gesellschaft leistete und bei ihm eingezogen war.

Über die Jahre hatte er mir viele Dinge beigebracht, nicht nur die Arten, mit einem scharfen Messer einem Menschen das Leben zu nehmen. Auch wenn er simple Dinge wie das Lesen nicht beherrschte, wusste er vieles, was sich später als durchaus nützlich erweisen würde. Als ich mit ihm das Gespräch über meinen Geburtstag geführt hatte, war Kenny stutzig geworden. Er hätte es nie für möglich gehalten, dass ich dieses Datum nicht kannte. Es schien, als hätte er meine Mutter für jemand anderen gehalten, als er sie in Erinnerung aus ihren gemeinsamen Tagen hatte. Also hatte er sich etwas ausgedacht. Am nächsten Tag hatte er einen Haufen Papier zusammengestellt, zwölf Seiten, um genau zu sein, kleine Felder gezeichnet, nicht jedes Blatt hatte die gleiche Anzahl und mich dann zu sich gerufen.

„Hör mal zu, Kleiner. Ich konnte dir keinen besorgen, weshalb ich mich dazu entschlossen habe, dir einen zu basteln. Das hier," Kenny zeigte auf den Stapel. „Ist ein Kalender. Unsere Zeit auf diesem Planeten lässt sich zusammenfassen. Es gibt Jahre, Monate, Wochen, Tage, Stunden, Minuten und Sekunden. Das solltest du wissen. Jede, nennen wir es Einheit, hat eine bestimmte Anzahl der jeweils kleineren Einheit. Ein Beispiel: Wir haben eine Minute. Diese Minute besteht aus 60 Sekunden. Verstanden?" Wenn ich Kenny richtig gefolgt hatte, musste er mir das Prinzip der Zeit und der Einheiten um die drei Stunden erklären. Am Ende hatte ich einen guten Überblick über das Geschehen erhalten. Leicht verwirrt fragte ich den schnaufenden Mann, was das Ganze denn jetzt sollte. Ich freute mich über jedes neues Wissen, aber was das mit dem Papier zu tun hatte, konnte ich mir nicht erschließen. Die Augen verdrehend seufzte der Ältere. „Ist schon gut, ich mache ja weiter. Auf so einem Kalender, wie den, den du hier siehst, kannst du einen Teil der Zeit darstellen, wie auf einer Uhr. Hier werden alle zwölf Monate aufgeführt, mit jedem einzelnen Tag. Und im Endeffekt hast du dann ein Jahr auf Papier. Er wird auch dafür genutzt, dass man sich wichtige Daten markieren kann." Nach und nach füllte Kenny die leeren Felder mit Zahlen.

Als er fertig war, zögerte er einen Moment. Seine Hand schwebte über dem Papier, die Spitze der Kohle, die er benutzt hatte, nur Zentimeter von der Oberfläche entfernt. Fragend sah ich ihn an. „Was ist? Warum machst du nicht weiter?" Er kratzte sich verlegen am Kopf. „Also, weißt du, ich.." Seine Augen verschwanden in einer Ecke des Zimmers. Ich stupste seine Schulter an. „Was?" Er antwortete nicht. Genervt trat ich ihn unter dem Tisch. Ich wollte eine Antwort. „Na gut, na gut... Musst doch nicht gleich brutal werden." Wie unglaublich ironisch, ein Mörder versuchte mir zu sagen, dass ich nicht so mit ihm umgehen sollte. Abwesend führte er seinen Satz weiter. „Du weißt doch, dass ich nicht lesen kann. Und.. na ja, schreiben.. kann ich auch nicht. Jetzt ist es raus. Du hältst mich wahrscheinlich für total bescheuert, oder? Ich kann dir nicht einmal etwas Gescheites beibringen." Er senkte seinen Kopf und blickte auf seine Beine. Ich zuckte mit den Schultern. „Na und? Ich kann beides nicht, ich werde es auch nicht brauchen. Ich will keine Bücher schreiben, ich will ein Ziel erreichen. Danach..." Meine Augen weiteten sich. Danach. Ja, was war danach?

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 30, 2021 ⏰

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