Veränderung

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Ich habe nie wirklich verstanden, warum das alles mir passieren muss. Ich habe nie etwas anderes gewollt als ein Leben, erfüllt von Zuneigung und Liebe. Aber ich musste früh genug begreifen, dass das Leben, das ich mir so sehr gewünscht habe, nie Realität werden kann. Schon von klein an wurde mir mein Leben durch Handlungen und Gefühle anderer zerstört. Trotzdem hoffte ich immer wieder auf's Neue, das es besser wird. Aber es wurde nie besser. Alles fing damit an, dass ich geboren worden bin. Verstanden habe ich es erst später, und dann war es längst zu spät.

Warum arbeitet Mama immer so lang..? Ich habe Hunger, solchen Hunger. Meine Gedanken schweiften immer wieder ab, zu Mama und ihren Geschichten. Die Geschichten, die sie mir erzählt, wenn sie heim kommt und mich ins Bett bringt. Gerade wünsche ich mir nichts sehnlicher, als endlich wieder eine dieser Geschichten zu hören. Ich wartete und wartete. Aber Mama kam nicht nach Hause. Sie hatte mir einmal von ihrer Arbeit erzählt. Laut ihr sei ihr Job nicht unbedingt gut, aber die Männer liebten ihre Art und wie sie ihre Arbeit auslebte. Ich verstand bis heute nicht, was sie meinte. Vielleicht erzählte sie ja diesen Männern auch ihre tollen Geschichten? Während ich immer weiter grübelte, was Mama wohl für einen Job hatte, knurrte mein Magen unaufhörlich. Ich habe Hunger.
Mir blieb nichts anderes übrig, als unsere Wohnung zu verlassen und nach ihr zu suchen. Ich war leider nicht sonderlich gut, was Kochen betraf und außerdem hatten wir nicht viel. Das Leben im Untergrund war hart. Auch als kleiner Junge musste man das früh begreifen, um zu überleben. Aber ich hatte ja meine Mutter und musste mich deswegen nicht um viel kümmern. Aber ich mochte es nicht, allein zu sein. Sie war oft weg, meistens den ganzen Tag, nur um kurz zu mir zu kommen, mir etwas zu Essen zu geben, mich dann ins Bett zu bringen und anschließend wieder zu gehen. Obwohl man hier Tag und Nacht nicht unterscheiden konnte, fühlte ich den Unterschied. Es war einfach ein Gefühl, was ich nicht beschreiben konnte

Also machte ich mich auf den Weg, um Mama zu finden. Nachdem ich das Haus verlassen hatte, trat ich auf die verdreckte Straße, die schwach beleuchtet war. Auch wenn der Untergrund schon schlimm genug war, wir lebten im schlimmsten Teil. Die Leute starrten mich an, als ich die Straßen auf meinen wackligen Beinen entlang lief. Aber ich wusste nicht, was ihre Blicke bedeuteten, deswegen machte ich mir nichts draus. Ich erreichte den Platz, auf dem sich oft Menschen prügelten. Auch heute war das der Fall. Ein groß gebauter Mann schlug gnadenlos auf einen jüngeren, und deutlich schwächeren Mann ein. Das Blut trat aus seinen Nasenlöchern und man konnte ein deutliches Knacken hören, der Jüngere brach zusammen, aber trotzdem hörte der Stärkere nicht auf, auf ihn einzuschlagen. Ich hörte nur seine brechende, flehende Stimme, die um sein Leben bettelte und einen lauten Schuss. Ich zuckte zusammen und machte, dass ich hier weg kam. Ich mochte es nicht, wenn Menschen vor meinen Augen mit solchen brutalen Handlungen klar gemacht wurde, wer der Boss war. Wir alle waren nur Gefangene in einer namenlosen Stadt, und jeder bedeutete das Gleiche: nichts. Aber trotzdem versuchte jeder, seine Position klarzustellen. Glücklicherweise musste ich mir um so etwas keine Gedanken machen. Ich lief weiter und weiter, bis ich bei einem Mann zum Stehen kam. Ich wusste nicht, wo Mama war und war somit auf Hilfe angewiesen. Der Untergrund war groß und ich hatte solchen Hunger.
,,E-Entschuldigung.. ich..", stotterte ich, überfordert von der Situation. Ich mochte es nicht, mit fremden Menschen zu reden.
Der Mann war anscheinend angetrunken, ich konnte seinen stinkenden Atem bis hier riechen. Er baute sich vor mir auf und lehnte sich hinunter. ,,Na.. was willst du denn hier, kleiner Mann?" Er grinste mich fordernd an, während seine Freunde im Hintergrund hämisch lachten.
,,Ich.. ich möchte zu meiner Mama.."
,,Ach, zu deiner Mama also? Wie sieht sie denn aus?" Der Mann schien mir wirklich helfen zu wollen.
„Sie.. ist nicht sonderlich groß und hat lange, schwarze Haare.. und.. ihre Augen, die sind grau."
Der Betrunkene drehte sich verdutzt zu seinen Freunden um, sah sie an und fing dann an, lauthals los zu grölen. „K-Kennst du meine Mama..?", fragte ich ängstlich. Dieser Mann machte mir Angst.
„Oh ja, die kenne ich!! Die hatte es echt drauf, nicht wahr, Männer?" Er lachte erneut und beugte sich so weit zu mir herunter, dass mir fast schlecht wurde. Er flüsterte mir ins Ohr: ,,Deine Mama ist in dem Haus da drüben, frag einfach nach der Nummer des Abends.." Dann erhob er sich und widmete sich wieder voll und ganz seiner Flasche in seiner Hand.
Jedenfalls wusste ich jetzt, wo sie war.

Ich trat in das Haus ein, um erstmal ein paar Schritte zurückzugehen. Ein widerlicher Geruch stieg mir in die Nase, und meine Sicht war vernebelt. Überall saßen ältere Männer und Frauen in kurzen Klamotten. Ich fragte mich, was das hier war. Also ging ich zum Tresen hinüber, nahm all meinen Mut zusammen und fragte vorsichtig nach der ,Nummer des Abends'. Die Frau, die gerade Rauch aus ihrem Mund an die Decke steigen ließ, sah mich mit einem Blick an, den ich nicht deuten konnte.
,,Ach, Kuchel meinst du? Ja, die ist dahinten im Zimmer." Sie zeigte auf eine Hintertür in der Ecke. Ich bedankte mich und ging mit zitternden Schritten nach hinter. Ich merkte nicht, wie die Frau mir zweifelnd hinterher sah und sich dann kopfschüttelnd von mir wegdrehte. Ich hätte mich umdrehen sollen.

Ich nahm einen tiefen Atemzug, drückte die Klinke der leicht morschen Tür nach unten und trat in das Zimmer ein.
„Hey, Mama, ich hab schrecklichen Hun-"
Ich beendete meinen Satz nicht, weil es sich anfühlte, als würde all mein Blut aus meinen Adern weichen. Das, was ich sah, wollte ich nie gesehen haben. Und ich war mir sicher, ich würde dieses Bild nie wieder aus meinem Kopf bekommen.
Vor mir lagen Mama und zwei Männer in einem schäbigen Bett, alle unbekleidet. Der eine Mann hatte schwarze, kurze Haare und sein Körper war voll mit Tattoos. Seine Muskeln waren so groß, dass ich dachte, seine Arme würden platzen, sobald er sich bewegen würde. Der andere hingegen war eher zierlicher, aber trotzdem kräftig gebaut. Seine blonden Haare hingen ihm verschwitzt im Gesicht, während er seinen Kopf in meine Richtung drehte.
Diese beiden Männer taten Dinge mit meiner Mutter. Dinge, bei denen sich mein Kopf drehte und mir augenblicklich schlecht wurde. Auch Mama sah mich jetzt an. Und ich konnte jetzt erst all die blauen Flecken und Würgemale an ihrem Körper erkennen. Sie sah mir in die Augen. Ihre graue Augen, die sonst immer mit solcher Liebe erfüllt waren, starrten mich kühl und ängstlich an.
„Levi, geh. Bitte geh." Ich sah noch einmal entsetzt an ihr herunter, drehte mich dann um und rannte, so schnell wie es ging.

Der Hunger und Appetit war mir schlagartig vergangen. Stattdessen wollte ich das Gesehene nur aus meinem Gedächtnis löschen und mich unsichtbar machen.
Zum ersten Mal in meinem Leben stellte sich meine fast perfekte Welt auf den Kopf.

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