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Wieso.
Ich habe keine Kraft mehr Tränen zu vergießen. Seit ich abends nachhause gekommen bin, liege ich in meinem Bett und starre auf die Decke.

Oft hast du mir vorgeschlagen einen dunkelblauen Wandteppich mit vielen funkelnden Sternen zu kaufen und ihn auf diese Decke zu hängen. Dann könnten wir an bewölkten Nächten unseren eigenen Sternenhimmel bewundern, meintest du. Ich habe immer mit dem Kopf geschüttelt. Heute weiß ich nicht mehr wieso. Vielleicht, weil ich glaubte Wandteppiche seien nur für Mädchen. Vielleicht war es für mich auch einfach schöner - besonders - nachts mit dir spazieren zu gehen und den echten Sternenhimmel zu bewundern. Egal was es war, ich hätte es tun sollen.

Meine geschwollenen, müden Augen schließen sich kurz. Was ich nicht alles tun würde, um für ein paar Minuten schlafen zu können. Doch jedes Mal, wenn sich meine Augen schließen und mein Körper sich beruhigt, kommen mir Bilder und Szenarien in den Kopf. Eine unscheinbare Stimme, die immer wieder fragt: Wieso.
Mir wird schlecht, wenn ich mir dich an der Brücke vorstelle. Alleine. Wieso konnte ich in dieser Nacht nicht ahnen, dass etwas Schreckliches passiert? Dass das Schlimmste in meinem Leben geschah? Wieso habe ich dich nicht angerufen, oder besser, wäre einfach zu dir gefahren? Wieso konnte deine Mutter dich nicht sehen, wie du aus dem Haus gingst? Wieso konntest du nicht mit mir reden? Mir erzählen was los war, was in dir vorging?

In mir kochte die Wut. War ich wütend auf mich? Auf Lola? Ich weiß es nicht.
Heftig schüttle ich den Kopf hin und her. Wieso. Wieso. Meine Finger krallen sich in das Bettlacken. Ich schreie lautlos.

Als ich im Augenwinkel die Holzkiste auf dem Schreibtisch stehen sehe, atme ich tief ein und aus.
Zielstrebig steuere ich auf den Tisch zu, nehme mir die Kiste und setze mich wieder auf mein Bett.

Langsam hole ich das lila-goldene Notizbuch heraus und blättere, ohne zu zögern auf die erste Seite.

Ich sehe direkt in ein Auge. Fasziniert starre ich auf die detaillierte Bleistiftzeichnung. Nicht, dass ich nicht weiß, dass sie Talent hatte, nein im Gegenteil. Ich war so fasziniert wie perfekt sie ihr eigenes Auge nachzeichnen konnte. Hat sie vor dem Spiegel gesessen und immer wieder ihr Auge genauestens betrachtet, um es so nah an der Realität darstellen zu können? Bestimmt hat sie Stunden, wenn nicht Tage dafür gebraucht. Beim Zeichnen war sie immer perfektionistisch.

Ich blättere um.

"25. April" wurde mit einem Kugelschreiber in die rechte Ecke geschrieben.
Am 25. April waren wir fast ein Jahr zusammen.
Ich lese flüsternd weiter.

"Ich werde immer schwerer und schwerer. Bis ich platze. Es gibt doch ein Sprichwort 'Jeder Mensch trägt seinen Rucksack mit sich'. Und daran glaube ich. Meiner wird voller und voller, aber ich weiß nicht von was. Mir geht es doch gut, ich habe eine liebevolle Mutter, eine bezaubernde kleine Schwester und Freunde, mit denen ich immer Spaß habe. Und ich habe den besten Freund der Welt, mit dem ich eine wunderschöne Beziehung führe. Mir geht es doch gut. Und dennoch ist Etwas in mir. Vielleicht seit ein paar Monate, vielleicht seit ich ein Kind war. Vielleicht war es schon in mir, als ich noch nicht einmal geboren wurde. Aber es ist hier und frisst mich auf. Mal mehr, mal weniger.
Mit diesem Buch möchte ich meinen Rucksack erleichtern. Ich möchte Schreiben, um es zu teilen, um es einen Platz zu geben. Einiges, vielleicht alles, werde ich in 'Sie-Form' schreiben, weil es mir leichter fällt. Nicht so nahe geht.
Ich werde in diesem Buch meine Gedanken und Gedichte aufschreiben. Diesem Etwas in mir Worte geben, es beschreiben und hoffentlich verstehen."

Das nun Geschriebene umkreiste sie.

"Ihr ging es doch gut. Ihr sollte es gut gehen. Alles war in Ordnung. Sie gab sich selbst die Schuld diese Ordnung nicht sehen zu können.

Von außen war alles in Ordnung. Von innen war alles verwirrt, durcheinander und zerstreut. Versteckt und dennoch präsent. Verknotet."

Ich biss mir auf die Lippe. Ich wusste nicht, dass etwas in ihr sie so sehr beschäftigte. Ich habe es ihr nicht angesehen. Ich, ihr Freund, der geglaubt hat, alles über sie zu wissen, hat es nicht einmal geahnt. Wir haben, hatten, eine romantische, kitschige Beziehung. Wir hatten unglaublich schöne Momente zusammen. Tausendmal gingen wir nachts spazieren, redeten über Gott und die Welt. Erzählten von unseren Träumen, von unserem Glauben, unseren Gefühlen. Doch diese hat sie mir verschwiegen. Wieso.

Das Verwelken der SonnenblumeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt