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Ich blättere weiter.

"5. Mai

Als, wenn sich ein Nebel in deinem Kopf nach vorne dringt. Stück für Stück, alles zu nebelt.

Oft lag sie in ihrem Bett, stundenlang. Starrte auf die Decke und dachte nach. Ihr Kopf war voll. Voller Nebel, der die Gedanken umhüllte und sie ungeordnet, zerstreut nach hinten lockte. Nach hinten. Nicht, weil sie weniger Wert oder präsent waren. Nein, im Gegenteil, dort hatten sie von Tag zu Tag weniger Platz. Sausten hin und her. Waren lauter denn je. Der Nebel aber drängt sich nach vorne, um diesen Zustand zeitlos zu machen. War er wie ein Schutzschild? Hatte er sie davor bewahrt, vor all diesen Erinnerungen, die sie hätte? Sie wusste es nicht."

Es tut mir weh diese Zeilen zu lesen. Ich weiß nicht, wie sich dieser Nebel anfühlt, ich weiß nicht wie es ist, aber es muss schrecklich gewesen sein.
Die Zeichnung daneben zeigt nur Gekritzel. Für mich sieht es wie ein Wirbelsturm aus, der wie wild herumtobt.
Ich beiße mir leicht auf die Lippen und blättere zur nächsten Seite.

"17. Mai

Die Mauer

Sie wusste es selbst nicht, ab welchen Augenblick, ab welchem Tag oder gar Monat sie sich nur noch zurückziehen wollte. Sich schützen wollte vor allen anderen. Vor sich selbst. Angst und Ungewissheit breitete sich in ihr aus wie ein Feuer, dass nicht zu stillen war. Große Menschenmengen ließen sie fast panisch werden. Spontane Aktionen gaben ihr nur das Gefühl von Unsicherheit. Sie war überfordert. Überfordert von all diesen Emotionen, die sie wie eine Mauer umgaben. Die immer größer wurde und sie versteckte. Ihre Schönheit versteckte. Sie war müde und erschöpft von erklimmen dieser Mauer, bis sie keine Kraft mehr aufbringen konnte. Sie blieb dahinter. Ob sie wollte oder nicht."

Ich halte mir die Hand auf den Mund. Tränen füllen wieder meine Augen. Ich weiß noch, als sie zu dieser Zeit mehr zuhause war, ihren Freunden oft absagte und auch mit mir weniger Zeit verbrachte. Ich habe geglaubt es sei aufgrund des Schulstresses, den sie als Ausrede benutzte. Hätte ich dir doch nur einmal tief in die Augen gesehen und gefragt, was wirklich los sei.

Mit Tränen in den Augen sehe ich mir die nächsten Seiten an. Skizzen von ihrer Schwester Zora und mir. Obwohl es nur Skizzen sind, sind sie für mich wunderschöne Kunstwerke. Lola war talentiert darin, einen Menschen so auf Papier zu bringen, dass auch die Zeichnung so viel Ausstrahlung, wie die Person selbst, hatte. Bewundernswert, wunderschön. Beim Anblick dieser Zeichnungen kann ich nur Staunen. Sie hat es bestimmt kurz nach unserem Jahrestag gemalt.
Wir waren in unserem Lieblingsrestaurant, einem Italiener in der kleinen, versteckten Gasse. Du hast wie immer Gnocchi gegessen, ich Pasta. Wir saßen direkt am Fenster mit Ausblick auf einen Wald. Ich habe gemeint, es sieht düster aus. Doch du hast nur gelächelt und dir vorgestellt, es würden helle Glühwürmchen herumtanzen. Du hast es so genau beschrieben, dass ich das Bild im Kopf hatte. Und das Düstere vergaß. Es war ein schöner Abend, wir redeten über Gott und die Welt. Ich schenkte dir die goldene Kette. Du hast dich so sehr gefreut. Dein Lächeln werde ich nie vergessen.
Die Nacht verbrachten wir bei dir. Als ich am Morgen aufwachte, hast du schon an deinem Schreibtisch gesessen, einen Bleistift zurück in die gelbe Vase gesteckt, dein Notizbuch geschlossen und bist mit einem breiten Grinsen auf mich zugegangen.
Ich liebe dich, Lola.

Du warst so glücklich, obwohl du diesen Nebel, die Mauer, in dir hattest. Wir war es für dich? Wie würdest du diese Momente beschreiben? Warst du wirklich glücklich für eine kurze Zeit? In der Zeit, die du mit mir verbrachtest? Oder überspieltest du nur die Verwirrung, die in dir war?

Ich blättere langsam um und lese weiter.

"27. Juni

Partys hat sie geliebt. Mit spontanen Aktionen die anderen Leute zu beeindrucken, sie zum Lächeln bringen. Es war immer das gleiche, war sie unter Menschenmengen ging es ihr gut, spürte sie anfangs Lebensfreude. Sie war glücklich. Alles war in Ordnung.

Und auf einmal kam dieses Gefühl. Dieses Gefühl verfolgte sie. War sie unter Menschen wuchs ihre Blüte, zeigte sie sich. Und als sie kurz vor dem Aufblühen war, verwelkte sie. Von einem auf den anderen Moment. Die Sicherheit, das Wohlfühlen war weg. Von einem auf den anderen Moment. Obwohl die Wurzeln tief waren, obwohl die äußeren Bedingungen, die Energie und der Einfluss, immer mit ihren Bedürfnissen übereinstimmte, verwelkte sie. Wurde ausgerissen. Wurde versteckt."

27. Juni, ein Tag nach der Party an dem das Foto entstand. Ich dachte, wir hatten alle immer Spaß.

Als du gesagt hast, es ginge dir nicht gut. Als du nachhause wolltest. War es nicht, weil du so viel getrunken hast? War es, weil du keine Energie hattest? Verwelktest?
Ohne uns von allen zu verabschieden, sind wir zu mir nachhause gegangen. Du hast dich ins Bett gelegt und gesagt, dass du einfach nur müde bist und schlafen willst. Ich habe dir geglaubt. Hätte ich vielleicht ein Bier weniger getrunken, hätte ich klarer sehen können.
Mit der linken Faust schlage ich wütend auf das Bett. Ich hätte es sehen müssen.

Auf der nächsten Seite stand mit schwarzer Schrift das Verwelken der Sonnenblume. Ringsherum zeichnete Lola verschiedene Sonnenblumen, die ihren Kopf hängen ließen. Ihre prachtvolle Ausstrahlung verloren.

"Der Nebel verdunkelte die Sonne. Die Sonne, die sie blühen ließ."

Lola, denke ich nur und eine kleine Träne perlt sich aus meinem Auge, über die Wange und fällt auf die Seite. Ein kleiner, unscheinbarer, nasser Fleck neben einer gezeichneten Sonnenblume.

Das Verwelken der SonnenblumeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt