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Ich wische mir die Tränen von den Wangen, um das wertvolle Notizbuch nicht noch mehr zu bewässern.

Aus der nächsten Seite wurde das Blatt rausgerissen. Wahrscheinlich jenes, welches sich nun auf dem Brief befand.

Ich werfe einen kurzen Blick auf den Schreibtisch. Auf den Abschiedsbrief. Wieso.

Mein Handy neben mir leuchtet auf. Batterie fast leer. Ich überlese die Meldung und erhasche einen Blick auf die Zeit - 2:34 - bevor ich weiterblättere.

"2. Juli

Sie war gefangen. Gefangen in sich selbst. Sie fand keinen Ausweg. Sie wollte, dass alles vorbei ist. Sie konnte nicht mehr. Jeden Tag mit sich und seinen Gedanken zu kämpfen, nicht zu Wissen was los war, nichts mehr zu fühlen und dennoch alles gleichzeitig zu fühlen, die Leere und Verwirrung in sich zu tragen, das alles, war anstrengend. Anstrengend für sie. Wie lange konnte sie das noch aushalten?"

Mein Gesicht zieht sich zusammen und ich lege meinen Kopf in den Nacken. Ich weiß nicht mehr was ich denken oder fühlen soll. Es tut mir leid. Es tut mir so leid, dass ich es nicht gesehen habe.

"14. Juli

Sie wachte auf. Mit getrockneten Tränen auf ihren Wangen. Mit geschwollenen, müden und leeren Augen. Sie schmerzten. Sie wachte auf. Ihr Kopf schmerzte. Ihre Gedanken, die sie auch nicht in der Nacht in Ruhe ließen, sausten hin und her. Der Nebel dichter denn je. Schreie, die so laut waren. Schreie, die so hilflos waren.
Das Schlimmste waren die Gedanken. Sie konnte nichts dagegen tun.
Sich selbst zu hören, sich selbst diskutieren zu hören, wie man es beenden könnte. Die Geschichte beenden. Jeder Raum, den sie betrat, war mit neuen Gedanken verbunden. Du könntest das und das benutzen. Mit dem wäre es schmerzhafter, mit dem wäre es schneller. Vorbei. Sie wollte es beenden. Die Gedanken. Wollte sie das Leben beenden? Anfangs nicht. Mit der Zeit war es ihr gleich. Ob, wann und wie spielte keine Rolle. Sie hatte keine Lust mehr darüber nachzudenken was sie wirklich wollte. Sie konnte nur noch die Stimmen, die Gedanken hören. Und das machte sie müde und schlaflos zugleich. Anstrengend und gleichgültig zugleich."

Ich kann meine Tränen nicht stoppen. Ich lasse alles aus mir. Bohre meine Finger in die Bettdecke. Schlage mit dem Kopf hinter mir auf die weiße Bettwand. Schluchze und verkrampfe.
Bis ich nach ein paar Sekunden den Kopf in meine Hände vergrabe. Ich schließe fest meine Augen. Wieso.

Zitternd nehme ich das lila-goldene Notizbuch von meinem Oberschenkel und sehe vorsichtig auf die nächste Seite.

"24.Juli

Ihre Augen waren dunkel. Fast schwarz. Ausdruckslos. Ohne Glanz, ohne Schimmer. In diesen müden, leeren Augen sammelte sich langsam Wasser. Es bildete sich eine unschuldige, kleine Träne. Sie machte sich auf den Weg zu den schweren, dunklen Augenringen. Floß über die gerötete Wange zur Nase. Berührte ihre Zitternden Lippen leicht, bevor sie sich fallen ließ. Die unschuldige, kleine Träne kam auf den schwarzen, samtenen Stoff auf. Ohne, dass sie es bemerkt hatte, wurde ihr Pullover immer nässer. Schwerer.
Ihre Augen waren dunkel. Fast schwarz. Ausdruckslos. Ohne Glanz, ohne Schimmer. Überfüllt mit Wasser. Unschuldige Tränen flossen von den schweren, dunkeln Augenringen zu den geröteten Wangen bis zur Nase. Berührten die zitternden Lippen und ließen sich fallen.
Ihre zitternden Lippen versuchten zu lächeln. Vielleicht ist es an der Zeit auch sie fallen zu lassen.
Einen letzten Blick in die dunklen, fast schwarzen, ausdruckslosen, müden und leeren Augen. Dann drehte sie sich um. Und ließ sich fallen."

Die letzte Seite. Die letzte beschriebene Seite.

Ich werfe das Buch in die Kiste. Schreie noch einmal mit tränenüberströmtem Gesicht und sprang auf. Verzweifelt gehe ich mit schnellen Schritten das Zimmer auf und ab.
Ich habe sie angesehen. Ihre Mauer. Ihre lächelnde Mauer und habe nie das Verborgene bemerkt. Ich habe ihr in die Augen gesehen und keinen Funken von diesem Etwas an ihr erkannt. Wieso.

Mit einer schnellen Handbewegung halte ich den Brief in meinen Händen.
Immer wieder lese ich Zeile für Zeile. Wort für Wort.

"Es tut mir so leid. Ich will das alles nicht mehr. Ich kann nicht mehr.

Louis, ich liebe dich
Deine Lola"

Das Verwelken der SonnenblumeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt