9 Jahre später
Es war Juni. Die Sonne ließ das grüne Gras auf dem Friedhof strahlen und der Wind ließ die Blätter der Bäume rascheln.
Eine Frau öffnete das Tor und schlenderte durch die Reihen aus Gräbern. Sie war mitte zwanzig und ihr langes blondes Haar glänzte golden im Sonnenschein. In der einen Hand hielt sie eine bunte Box und in der anderen einen kleinen Topf mit lila Stiefmütterchen.
Auf dem Grab, an dem die stehen blieb, stand der Name eines Mädchens mit ihrem Lebzeiten, die keine sechszehn Jahre gedauert hatten. Auf dem Grab war ebenfalls ein kleines Foto von einer Jugendlichen mit hellbrauner Haut und dunklen Haaren.
Die Frau holte zwei Handschuhe aus der Box raus. Sie grub ein Loch in die Erde, pflanzte das Blümchen darin ein und holte dann eine Gießkanne an einer der Wassersammelstellen, die über den Friedhof verteilt waren, um das Beet zu gießen.
Darauf hin zog sie sich die Handschuhe aus und öffnete die Box. Sie holte zwei Teelichter in der Form der Zahlen 2 und 5 hervor, stellte sie vor den Grabstein und zündete sie an.
»Alles Gute zum Geburtstag, Ena«, sagte Gina und holte eine laminierte Geburtstagskarte hervor, die sie mit einem herzförmigen Stein, den sie mitgebracht hatte, auf ihr Grab legte.
Ihr Blick fiel auf zwei Sträuße, die am Grab lagen.
»Liane und Kyla haben wohl auch an dich gedacht«, sagte Gina und lächelte.
»Das hab ich auch«, sagte eine Stimme hinter ihr. Gina drehte den Kopf und erblickte George, der lächelnd mit einem Topf Rosen zum Einpflanzen vor ihr stand.
»Brauchst du Handschuhe?«, fragte sie und hielt ihm die Handschuhe hin, mit denen sie die Stiefmütterchen eingepflanzt hatte.
»Danke«, sagte er und nahm sie entgegen. »Auch wenn ich mir für Ena immer wieder gerne die Hände schmutzig mache.«
Er pflanzte die kleinen Rosen gleich neben Ginas Stiefmütterchen ein und setzte sich neben ihr ins Gras.
»Rate mal, wer sich heute bei meinem Arbeitgeber um einen Job beworben hat«, unterbrach George die Stille. Gina zuckte mit den Schultern.
»Jerik«, antwortete George. »Als mein Chef herausbekam, dass er jemanden umgebracht hat, hat er ihm eine Absage gegeben. Ganz ehrlich, wenn der angenommen worden wäre, hätte ich sofort gekündigt.«
»Keine Schuldgefühle, Liebes!«, ermahnte Gina das Grab.
George hatte Jerik nie verziehen, dass er Serena ermordet hatte. Auch Jade hatte er nicht verziehen. Jerik hatte zwar den Anstand gehabt, sein Urteil zu akzeptieren, aber Jade war der Meinung gewesen, dass dieses Urteil zu hart für sie wäre.
»Hast du etwas von Jakob gehört?«, fragte Gina.
Jakob war im vergangenen Jahr nach Großbritannien augewandert. Er meinte, er könne es nicht ertragen, hier zu bleiben, da ihn alles an Serena erinnerte. Zwar hatten die Freunde versucht ihm klar zu machen, dass er keine Schuld an Serenas Tod hatte, doch war er weiterhin überzeugt, er hätte etwas verhindern können, wenn er jemanden erzählt hätte, was Jerik ihm gesagt hatte.
»Ja. Er hat mich gestern angerufen und mir gesagt, dass er sich neu verliebt hat«, sagte er.
»Wie schön«, meinte Gina.
Seit Serenas Tod war viel passiert. Jeder der Freunde hatte seine Narben davon getragen. Sie mussten sich mit dem Gedanken abfinden, dass Serena nie ihren sechzehnten Geburtstag feiern, nie den Abschlussball besuchen und nie ihren Abschluss machen konnte. Nie würde sie heiraten oder Kinder kriegen können.
Jeder von ihnen hatte irgendwie Schuldgefühle. George war der Meinung, nichts davon wäre passiert, wenn er niemandem von dem Kuss erzählt hätte. Kyla meinte, sie hätte Serena nie aus den Augen verlieren sollen. Das selbe galt für Gina und Liane.
George war monatelang am Boden zerstört. Es hatte ihn fertig gemacht, dass er Serena nichts von seinen Gefühlen erzählen konnte, bevor sie starb.
Gina und Liane mussten ihm klar machen, dass Serena nicht gewollt hätte, dass er so lange um sie trauerte, und dass Serena gewollt hätte, dass er glücklich wäre. Serena hätte gewollt, dass ihre Freunde das Leben in vollen Zügen genießen, so wie sie es eigentlich vorhatte.
Gina erinnerte sich, wie sie von Serenas Tod erfahren hatte. Sie war bereits zuhause im Bett, der festen Überzeugung, dass es Serena bald wieder besser gehen würde, als ihr Vater sie um vier Uhr in der Nacht weckte. Sie war verärgert gewesen, dass er sie um diese Zeit weckte. Ihre Mutter lief im Garten auf und ab. Gina dachte zuerst, es wäre etwas mit ihren Großeltern, bis ihr Vater ihr gesagt hatte, was wirklich war. Gina konnte sich nicht erinnern, was danach passiert war.
Liane wurde von ihrem Vater abgeholt. Sie hatte ein Donnerwetter erwartet, aber er fragte nur, wie es ihr ging. Die Polizei hatte ihr von Serenas Tod erzählt, da sie mit am längsten beim Grillplatz blieb, um eine Aussage zu machen. Liane hatte es aber nicht verstanden. Erst als sie den Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Mutter sah, wurde ihr alles klar. Es hatte einen Monat gedauert, bis die Jugendlichen verstanden hatten, dass Serena nicht mehr da war. Teilweise hatten sie Serena eine SMS geschickt, ehe sie gemerkt hatten, dass Serena sie nie lesen würde.
George sah Serenas Grabstein an. Obwohl er weiter gemacht hatte, trauerte er ab und zu noch immer um sie, vermisste sie. Und das war vollkommen in Ordnung.
»Sie ist erst tot, wenn wir sie vergessen«, sagte Gina, die Georges Gesichtsausdruck bemerkt hatte.
»Wird nicht passieren«, antwortete George.
»Ja, dafür habe ich gesorgt«, sagte Gina und zog ihren Ärmel nach oben. Auf ihrem Handgelenk war der Buchstabe S tätowiert.
»Mit ihrem Anfangsbuchstaben auf meinem Handgelenk wird sie immer bei mir sein«, sagte sie.
»Für immer und ewig«, sagte George, sah ihr direkt in die Augen und lächelte. Gina lächelte zurück und zog sich den Ärmel wieder nach unten.
Nach einer Weile pustete Gina die Kerzen aus und steckte sie zurück in die Box. Sie und George standen auf und gingen zusammen zum Ausgang.
»Gina?«, begann George. »Bevor wir uns verabschieden, darf ich dich noch auf einen Kaffee einladen?«
Gina blickte ihn überrascht an, doch auf ihrem Gesicht erschien wenige Sekunden später ein Lächeln.
»Soll das ein Date sein?«, fragte sie.
»Nenn' es wie du willst«, meinte George und schloss das Tor hinter ihnen.
Die Zukunft war unbekannt, genauso wie viele andere Sachen auf dieser Welt. Doch eins war klar: Serena hätte sich für die beiden gefreut.
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Ein Kuss mit Folgen
Детектив / ТриллерIm Frühjahr küssen sich zwei Teenager auf einer Geburtstagsparty. Ein Kuss mit fatalen Folgen, denn er setzt eine Flutwelle aus Eifersucht, Manipulation und Verzweiflung frei, die ein schreckliches Ende nehmen wird. ********** Diese Geschichte basie...