Kapitel 1

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Warum gerade ich?》 Immer wieder stellte ich mir diese Frage während der Schmerz dumpf in meiner Brust pochte. Es tat so weh zu wissen, dass sie nun für immer weg war. Einfach weg. Keine Abschiedsworte, kein Brief, nichts. Traurig ballte ich meine Hände zu Fäusten und vergrub sie tiefer in den Taschen meiner Jacke. Wie konnte sie mir das antun? Die eiskalten Finger des Windes rissen an meinen blonden Haaren und fuhren mir in den Kragen. Ich schauderte. Als ich an einem Schaufenster vorbei kam, ließ ich meinen Blick darüber gleiten und blieb geschockt stehen. Das Mädchen in der dreckigen Glasscheibe hatte stumpfe grüne Augen, die tief in den Höhlen lagen, umsäumt von dicken schwarzen Ringen. Ihre Haare fielen ihr

zerzaust über die Schultern und ihr Mund war zu einem schmalen Strich zusammen gezogen. Ungläubig trat ich einen Schritt näher und hob die Hand. Langsam ließ ich sie über die Scheibe gleiten, berührte das blasse kalte Gesicht und fuhr die harten Konturen der Wangenknochen nach. Ich konnte nicht glauben, dass ich dieses Mädchen sein sollte. Dieses gebrochene, kaputte Mädchen. Es hatte meine Sachen an und trotzdem weigerte ich mich sie als mein Spiegelbild zu sehen. Ich spürte wie sich Tränen ihren Weg aus unseren Augen bahnten, doch ich zwang sie zurück. Ich hatte nicht vor zu weinen. Das Mädchen in der Glasscheibe stimmte mir zu. Oh nein, wir würden nicht weinen. Mit einer energischen Bewegung strich ich mir die Haare zurück und schaute meinen Gegenüber kühl an. Sie sah ebenso zurück.

Doch wie abweisend sie mich auch ansah, in ihren Augen sah ich den stummen Hilfeschrei. Den Wunsch endlich wieder in den Arm genommen zu werden, die Angst und die Sehnsucht. Die Sehnsucht nach IHR. Zögerlich hob ich meine Hand erneut und legte sie langsam auf das Glas. Sie tat es mir nach, doch ich fühlte keine Wärme als sich unsere Fingerspitzen berührten. Nur kaltes glattes Glas. Ich wünschte jemand würde uns helfen, aus dem Strudel der Vergangenheit befreien. Aber da waren nur wir, ich und das Mädchen in der Scheibe. Mitleidig sah ich sie an, sie kämpfte schon wieder mit den Tränen. Wie schwach sie doch war, während ich in den Spiegel sah, beschloss ich eine Mauer zu bauen. Niemand sollte mich so sehen. Ich mauerte sie alle ein, all die unnötigen Gefühle. Nun starrten mir eiskalte Augen entgegen.

Sie stopfte ihre Hände wieder zurück in die Jackentaschen und brachte sogar ein kleines Lächeln zustande. Stolz sah ich mir sie noch einmal an, dann drehten wir uns um und gingen. Ich würde das Lächeln auf meinen Lippen wohl festpicken müssen, damit es nicht gleich wieder verschwand. Doch immerhin war es da. Und so schnell würde ich es nicht absetzen.

Vom Himmel hochWo Geschichten leben. Entdecke jetzt