Kapitel 1

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Bei jedem Schritt machten sich ihre angespannten Muskeln bemerkbar und  ihr Kopf dröhnte schon seit dem Nachmittag. Ein lauter Seufzer entfuhr ihr, als ihr Blick auf ihre neue Armbanduhr viel, dieses hässliche Geschenk zeigte ihr, das sie schon längst daheim sein sollte. Ihre beiden Katzen würden wahrscheinlich schon gemeinsam vor der Eingangstür sitzen und lauthals ihren Hunger kundtun. Die Nachbarn waren sich begeistert von dem Konzert, leider war ihre derzeitige Wohnung nicht mit dicken Wänden gesegnet. 

Während sie über den dunklen Parkplatz huschte, war nur das Klicken ihrer Absätze auf dem Asphalt zu hören. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit, etwas zwischen Angst und Nervosität, das sie schneller werden ließ. Gleichzeitig versuchte sie, erfolglos, ihren Autoschlüssel aus ihrer viel zu großen Tasche zu ziehen. Nach einigen Versuchen, bei denen sie nur ihre Jausenbox und anderen Kleinkram zwischen die Finger bekam, blieb sie entnervt stehen. 

Langsam ließ sie die angestaute Luft aus ihren Lungen entweichen, es war der falsche Moment für eine ihrer Panikattacken. Sie musste sich zusammenreißen, es war dunkel und sie war alleine auf dem großen Parkplatz, natürlich war ihr dabei ein wenig mulmig zumute. Der Wachtraum von letzter Nacht spukte auch noch in ihrem Kopf herum, er war schwer zu verdrängen und schummelte sich immer wieder an die Oberfläche ihres Bewusstseins. Das Phänomen war ihr nicht gänzlich unbekannt, allerdings hatte sie, bis gestern, nicht wirklich daran geglaubt. Es war für sie nur eine unbedeutende Legende gewesen, ähnlich wie der Slender Man. Ängstlich sah sie zu dem kleinen Waldstück hinüber, lächerlich, den gab es ganz sicher nicht. 

Aber der Wachtraum war alles andere als lächerlich gewesen, er hatte sie bis ins Mark erschüttert, auch wenn sie das nicht gerne zugab, nicht einmal vor sich selbst. Mitten in der Nacht war sie wach geworden, konnte sich nicht bewegen und ihre Augenlider flatterten unkontrolliert. Ihre Atmung ging stoßweise und sie hatte keine Kontrolle über sie. Er stand im Türrahmen, füllte ihn fast aus, es waren keine Gesichtszüge zu erkennen, nur seine Umrisse. Es war ein großer unheimlicher Schatten, der einfach nur dastand und sie trotzdem fast zu Tode ängstigte. Mit aller Macht hatte sie versucht sich zu bewegen, doch ihr Körper weigerte sich zu kooperieren. Tränen rollten ihr über ihre Wangen und mit einem Mal war der Spuk vorbei. Ruckartig setzte sie sich auf, tastete nach dem Einschaltknopf ihrer Lampe und fegte diese dabei fast vom Tisch. An Schlaf war danach nicht mehr zu denken gewesen, somit verbrachte sie den Rest der Nacht mit Nachforschungen. 

Endlich fühlte sie das kalte Metall des Schlüsselbundes und zog ihn mit lautem Geklimper aus der Tasche. Abgesehen von ihrem Auto war der Parkplatz leer und die einzige Beleuchtung kam von ein paar Straßenlaternen, die ihren Job nicht besonders gut erfüllten. Schließlich schaffte sie es zu ihrem Auto, das Geräusch der Tür beim Öffnen und der Duft, der aus dem Inneren strömte, beruhigten ihre Nerven. 

Routine, bestimmte Gerüche und Geräusche hatten immer schon diese Wirkung auf sie gehabt. Als Kind war es, das Klappern ihrer Hausschuhe gewesen oder auch der Geruch der Knete im Kindergarten. Sarah musste an eine Unterhaltung denken, zwischen ihrer Mutter und einer der Erzieherinnen, sie sei ein hochsensibles Kind und das sollte doch berücksichtigt werden. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte sie recht gehabt, doch wie immer wollte ihre Mutter so etwas nicht hören und blockte ab. Nicht ohne Grund hatte sie keinen Kontakt zu ihrer Familie, sie war besser ohne sie dran. Natalie war ihre Familie, schon seit sie Kinder waren fühlte sie so und es wurde ihr über die Jahre immer wieder bestätigt. 

Der lange Arbeitstag und ihre neue Situation waren sicher Schuld an ihrem Gefühlschaos doch gleichzeitig spürte sie, dass es das nicht wirklich war. Bevor sie losfuhr, gab sie dem inneren Druck nach und riskierte einen Blick auf die Rückbank, die wie erwartet leer war. Beim Zurückdrehen strich sie sich die Haare aus dem Gesicht, die auf ihrem Lipgloss kleben geblieben waren. Für ein paar Sekunden dachte sie einen Schatten vor ihrem Auto zu sehen, sie zuckte zusammen und verschloss reflexartig die Tür. Bei genauerer Betrachtung war da nichts, sie musste über sich selbst lachen, jetzt war sie 26 und immer noch ein Angsthase. 

Ihr Handy läutete und ließ ihr Herz noch schneller schlagen, es war Natalie. Als sie ran ging, war nur ein unangenehmes Rauschen zu hören, sie musste es von ihrem Ohr weghalten. Vermutlich ein versehentlicher Anruf, sie würden sich ohnehin gleich sehen. Sie fuhr los, lenkte ihre ganze Aufmerksamkeit auf die nasse Straße, doch auch jetzt wollte dieses unbehagliche Gefühl nicht ganz verschwinden. Es würde besser werden, wenn sie nicht mehr alleine war.

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