9. Anruf

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Schwach köchelte das Wasser in dem uralten, ramponierten Topf vor sich hin, während Harris gerade in seiner winzigen Küche umherschlurfte, auf der Suche nach den italienischen Nudeln, die ihm eine Nachbarin vor kurzem geschenkt hatte. Mrs. Brown aus dem Obergeschoss war das gewesen. War Anfang des Jahres mit ihrem dritten Ehegatten einen Monat lang nach Italien gefahren, hatte dort wohl so einige Souvenirs erbeutet. Er mochte sie, auch wenn sie zuweilen sehr streitbar war. Aber sie begegnete ihm immer ausgesucht höflich und galant, die gute alte Schule wohl, hatte sich immer nach seinem Befinden erkundigt, wenn sie ihn im Gang antraf, immer geholfen, wenn wegen seines Beines Not am Mann war. Das war ihm zwar unangenehm, aber das musste nun mal sein. So mochte Harris die Menschen, unkompliziert und gerade heraus und, wenn möglich, nicht zu aufdringlich. Er konnte es nicht ausstehen, wenn sie ihn mit ihren kleingeistigen Ängsten und Sorgen und Empfindlichkeiten zuschwafelten und sich dabei scheinbar oft nicht einmal darüber im Klaren waren, dass die Welt aus mehr bestand als aus ihren eigenen, vernagelten Boxen. So viele Probleme auf der Erde, dachte Harris oft, könnten auf der Stelle gelöst sein, würden die Menschen nur mehr auf ihre Umgebung achten und lieber auf Effektivität setzen, statt darauf, selbst Recht zu behalten oder sich selbst zu rechtfertigen. Dummheit war das in Harris' Augen, nichts als reine Dummheit. Lieber würde er ein ganzes Leben lang erfolglos danach streben, ertragfähiger und wirksamer in seinem Denken und Handeln zu werden, als fortwährend Ausreden für das eigene Nichtstun und die eigene Ohnmacht im Angesicht der Möglichkeiten, die sich einem tagtäglich boten, zu erfinden. Eine Schande für die Gesellschaft waren solche Leute. Nicht auszudenken, wo man hinkäme, hätten sie die Macht über die Geschicke dieser Welt. Harris hinkte mit seinem lahmen Bein in Richtung eines kleinen Eckschränkchens und öffnete es mit zittrigen Fingern. Ein Symptom des vom Alkohol verursachten Katers, den er seit der Früh mit sich herum schleppte. Gestern Nachmittag war es passiert, dass Harris die Entscheidung getroffen hatte, seiner jahrelangen Abstinenz ein Ende zu setzen. Als er mit einer höllisch schmerzenden Rippe nach Hause gekommen war und nicht einmal die besten Schmerzmittel, die er normalerweise für sein Bein brauchte, etwas geholfen hatten. Da hatte er sich einen uralten schottischen Whisky aus der ganz untersten, beinahe vergessenen Schublade der Kommode in seinem Flur gegriffen und den Schmerz mit diesem betäubt. Wie unwürdig, hatte er ein paar Mal gedacht, aber als der Alkohol seine Wirkung tat, dann irgendwann nicht mehr. Der junge Kerl, der verantwortlich war für die schmerzende Rippe, ahnte vermutlich nicht einmal, was er da angerichtet hatte.

Falls er nicht im Knast sitzt, dachte Harris schadenfroh. Von seiner Parkbank aus hatte er es gestern beobachtet. Zwei junge Frauen, beide aus irgendeinem Grund unfassbar tief in die kleinen Kästen direkt vor ihren Gesichtern versunken, waren wild schnatternd den Weg entlang stolziert, als eine Gruppe junger Männer ihnen plötzlich hinterher gepfiffen hatte und einer von ihnen war sogar so frech gewesen, es nicht dabei zu belassen. Dieser hatte die Damen, deren Kleidung man durchaus als unanständig oder aufreizend hätte bezeichnen können, verfolgt, hatte sie an den Armen gefasst und sich in seinem (wie Harris vermutete) durch Rauschmittel angestachelten Wagemut so flegelhaft benommen, dass er sich irgendwann genötigt gesehen hatte, einzuschreiten. Eine gute Idee war das nicht gewesen, dafür hatte er – trotz seiner offensichtlichen Einschränkungen – einige saubere Fäuste kassiert, bevor schließlich ein Streifenpolizist zur Verfolgung des etwas hysterischen jungen Mannes angesetzt hatte. Harris war nicht einmal besonders wütend auf den Kerl. Schließlich war dieser sicherlich kein böser Mensch. Vielleicht nicht einmal ein besonders intelligenter. Vielleicht war er einfach nur ein ganz normaler Typ gewesen, der sich wegen seiner nichtigen Probleme für einen Nachmittag ins Orbit hatte schießen wollen und sich stattdessen in einer ganz realen, ernstzunehmenden Situation wiedergefunden hatte. Der im Rausch vergessen hatte, seine Mitmenschen mit Respekt zu behandeln, obwohl er dies normalerweise wie selbstverständlich tat. Der normalerweise kein aggressiver, bockbeinig aufgelegter Kerl war und dem es nüchtern im Traum nicht eingefallen wäre, irgendeinen Ärger zu machen.

Die Toten SteineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt