4. Der Weiße Raum

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„Jetzt mach mal halblang!", tönte es sogleich zurück. Die Stimme gehörte Freddy Rashford, der sich ohne seine Familie unter die Schaulustigen gemischt hatte. Seine Frau und die Kinder waren vermutlich noch beim Frühstück, aber der dorfeigene Schreiner, Tischler und Zimmermann mit den muskulösesten Armen im ganzen Ort war dafür bekannt, stets an vorderster Front mitzutuscheln, wenn etwas passierte.

„Was quatschst du denn immer gleich für eine Scheiße?", grölte er. „Ganz bestimmt hat niemand hier den Kindern was getan! "

„Ach ja?!", kreischte Mary.

„I- Ich verstehe es immer noch nicht", stotterte Luis panisch. „Die zwei sind doch öfter mal für eine Zeit weg, warum ist das auf einmal so ein Ding?" Er glaubte, die Antwort zu kennen, traute sich aber nicht, genauer darüber nachzudenken. Amber war erst zwölf Jahre alt und normalerweise tat hier nie jemand von den Kleinen etwas so ... Eigenartiges. Dafür war der Wald dann doch zu gruselig.

„In ihrem Zimmer war überall Blut!", rief Mary. „Auf dem Weg zur Tür waren überall Kratzspuren an der Wand! Jemand hat sie aus dem Haus gezerrt!"

„Und wie soll derjenige das gemacht haben, ohne dass ihr es hört?", Freddy zurück. Luis fand das eine gute Frage, auch wenn er noch nicht ganz über die Information mit dem Blut hinweg war.

„Ich weiß es nicht!" Ambers Mutter schien kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. „Aber wir müssen doch was tun! Ed hat's gesehen und jetzt ist er auch weg! Das ist doch kein Zufall, das müsst ihr doch verstehen!"

„Glaubst du das ernsthaft? Die sind einfach weggelaufen", hielt Freddy dagegen. „Wir sollten ausschwärmen und die Gegend absuchen, dann finden wir die beiden Ausreißer wieder."

„So ein Unsinn!", blökte Farmer Thomas Frau' in die Runde. „Es ist doch vollkommen klar, dass die beiden nicht freiwillig gegangen sind. Derjenige, der das zu verantworten hat, sollte es sofort zugeben!"

„Willst du also jemanden der hier Anwesenden unterstellen, deine Tochter entführt zu haben, Mary?", antwortete Freddy mit schneidender Stimme. „Vielleicht hatte sie bloß einen Wutanfall in ihrem Zimmer und ist dann ausgebüchst. Wäre ja nicht das erste Mal."

„Du scheinst dir das ja schon ziemlich gut überlegt zu haben!", konterte der Brauereimeister Mark Ruben, ein untersetzter Kerl mit langem, vollem Bart, so wie ihn beinahe alle der männlichen Dorfbewohner hatten. Mary wollte gerade ebenfalls zurück zetern, da legte ihr ihr Mann von hinten die Hand auf die Schulter: „Liebling, es wird alles gut", flüsterte Ambers Vater, Cole Hart – ein hochgewachsener Hüne – gerade so laut, dass Luis es noch hören konnte. „Beruhige dich, wir wissen ja noch gar nicht, was passiert ist. Wir tun jetzt erst einmal, was Frank gesagt hat und rufen die Polizei, ja?" Auch seine Stimme bebte merklich, aber er versuchte, es einigermaßen zu verstecken, um seine Frau zu beruhigen. Die Sorgenfalten auf seiner Stirn waren jedoch nicht zu übersehen. Mary schluchzte und drückte ihr Gesicht in seine Armbeuge, dann nickte sie – so langsam, dass Luis das Gefühl bekam, er hätte es sich eingebildet. Freddy Rashford wirkte enttäuscht von diesem Plan, sagte aber nichts mehr. Stattdessen funkelte er den alten Ruben böse an.

„Komm, mein Junge, das ist unser Stichwort", erklärte Luis' Opa ihm über seine Schulter hinweg, indem er die Geste von Marys Mann nachahmte. „Dein Vater wird sich sicher schon fragen, wo du bist. Wir gehen und sagen deinem Vater Bescheid, was passiert ist."

„Gramps?"

„Ja?"

„Wenn das wirklich stimmt ...", flüsterte Luis, „woher wissen wir, dass Edmund nicht einfach losgelaufen ist, um sie zu suchen?"

„Eine gute Frage, mein Lieber", antwortete Gramps, immer noch mit vor Sorge tief zerfurchtem Gesicht. „Aber das kann ich gerade auch nicht beantworten. Komm, gehen wir."

Die Toten SteineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt