Es fielen immer noch vereinzelte Tropfen in die Pfützen ringsherum am Straßenrand, als Luis durch das Dorf wanderte. Abgesehen davon schienen sich die Wolken jedoch ordentlich ausgeregnet zu haben. Er wurde nicht einmal mehr richtig nass, selbst wenn er stehen blieb, um kurz zu verschnaufen. Er traute seinem Kreislauf immer noch nicht so ganz, auch wenn er seinen Körper direkt dem Schwächeanfall mit viel Essen und Trinken betankt hatte. Der angenehme Geruch nach Kühle und Frische, der in der Region stets nach einem ergiebigen Regenguss die Luft erfüllte, wehte Luis in die Nase und er genoss den Spaziergang, während er Croptons Hauptstraße entlangschlenderte. Niemand war zu sehen. Alle hatten sie sich in ihre Häuser verzogen, um den Rest des Tages dort zu verbringen. Hinaus auf die Felder traute sich keiner mehr, wenn Blitzeinschläge, Erdrutsche oder schlimmeres drohten. Und in den Cottages und Wirtshäusern war bei solch einem Wetter freilich auch nicht gerade die Hölle los. Vielleicht einige versprengte Wanderlustige würden sich um diese Uhrzeit dort einfinden, um zu speisen oder zu nächtigen – mehr nicht. Gerade, als Luis wie gewohnt nach links abbiegen wollte, um in ihr eigenes Haus zurückzukehren, sah er aus dem Augenwinkel eine Gestalt in langen, schwarzen Gewändern im Zwielicht der dicht beieinander stehenden Gebäude entlanghuschen. Abrupt blieb er stehen und wirbelte herum. Die Augen zusammenkneifend spähte er durch die diesige Luft. Es war eine Frau. Ambers Mutter stapfte in dicken Gummistiefeln durch die große Wiese, die sämtliche der kleinen Veranden vor den Bauernhöfen und Garagen miteinander verband und sah sich dabei immer wieder um, als würde sie Angst haben, verfolgt zu werden. Trotz ihrer tief ins Gesicht gezogenen Kapuze erkannte Luis sie an den grau melierten, langen Haaren, die ihr vor der Brust herab hingen, und dem eigenartig steifen, tippelnden Gang. Ihr Regenmantel wehte wie ein schwarzer Umhang hinter ihr her. Sie drückte sich regelrecht gegen die die Grundstücke umgebenden Holzzäune.
Was soll das denn werden?
Luis runzelte verblüfft die Stirn. Als sie sich erneut umdrehte und ihn über die Straße hinweg erblickte, wankte sie plötzlich wenig elegant hin zum normalen Bürgersteig, beschleunigte ihre Schritte und verschwand in einer der Gassen zwischen zwei Wohnhäusern, die – wie Luis wusste – zu den Feldern und den restlichen Cottages weiter unten im Dorf führten.
Was zum Teufel treibt sie? Sie sollte doch zuhause bei ihrem Mann sein, dachte Luis und glotzte noch einige Momente auf die Stelle, an der Mary verschwunden war. Dann raffte er sich auf und marschierte die letzten paar Meter, bevor er – mit etwas zittrigen Händen – die Tür aufsperrte und die eisig klare Regenluft gegen Staub und das stickige Geruchsgemisch in ihrem eigenen Hausflur eintauschte. Er hatte jetzt besseres zu tun, als sich um Ambers Mutter zu kümmern. Immerhin stand einiges auf dem Spiel.
Wo ist er?, fragte sich Luis und lugte erst in die Küche und dann ins Wohnzimmer. Sein Vater war nicht da. Genau genommen hatte er ihn heute Morgen das letzte Mal gesehen, als er in sein Zimmer gekommen war, um den Besuch von Mary anzukündigen. Der dunkelgrüne Jeep, den sie seit einer Ewigkeit besaßen, stand aber nach wie vor an seinem angestammten Platz, direkt vor dem Haus, allzu weit konnte er nicht sein. Luis erklomm die Stufen in den ersten Stock und wagte einen unangekündigten Blick in das Schlafzimmer seines alten Herren. Tatsächlich, da lag er – in voller Montur, ohne Decke, alle Viere von sich gestreckt. Neben ihm auf dem Nachtkästchen nichts als eine leere Flasche Bier und ein einzelnes, orangenes Döschen mit weißem Deckel.
Scheiße. So krieg' ich ihn ja nie wach.
Er klopfte ein paar Mal vorsichtig gegen den Holzrahmen der Tür. Keine Regung. Dann versuchte er es mit einigen kräftigen Stampfern des Fußes. Immer noch nichts. Schließlich fasste er sich ein Herz und sagte mit lauter, fester Stimme: „Dad!"
Ein angriffslustiges Grunzen ertönte, als das unförmige, massige Etwas in dem schmuddeligen Bett allmählich erwachte. Lange dauerte es, fast zu lange, Luis glaubte schon, er würde direkt wieder wegpennen. Aber dann hatte sich sein Vater aufgerappelt und sah ihn aus merkwürdig glasigen Augen an.
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Die Toten Steine
Mystery / ThrillerDie Hochmoore im Norden Großbritanniens sind ein Ort der Geheimnisse, der Wunder, des Unerklärlichen. So mancher Reisender hat sich schon in ihnen verirrt und nicht wenige sind von ihren Irrwegen in früheren Zeiten nie wieder zurückgekehrt. Erzählt...