Hektisch blickte die Frau sich in der Menge um. Die Männer mit den schwarzen Mänteln waren nicht zu sehen. "Mama, wohin müssen wir gehen?" Die Frau schaute zu ihrer dreijährigen Tochter und kniete sich hin, so dass sie auf gleicher Höhe wie sie war. Wie soll sie es ihr nur sagen?
"Hör her!", begann sie, "Du hast doch diese schwarzen Männer gesehen, oder?"
Das kleine Mädchen nickte ängstlich.
Die Frau fuhr fort: "Diese Männer sind böse und wollen mich für etwas beschuldigen was ich nicht getan habe."
Das Mädchen nickte wieder. Dieses Mal aber nicht ängstlich, sondern ernst. Sie wusste, dass ihre Mutter in Gefahr war. Trotzdem versuchte sie stark zu sein, für ihre Mutter und für sich selbst. Die Mutter lächelte und blickte stolz auf ihre Tochter.
"Ich hab dich lieb."
Dann reichte sie ihr die Kette, die sie bisher immer getragen hatte. Es war ein einfaches Lederband, darauf taumelte ein kleiner Kristall. Er funkelte im Sonnenlicht und war eines der wenigen wertvollen Dinge, die die Frau besaß. Das kleine Mädchen wusste, was es mit der Kette auf sich hatte.
"Warum?", fragte sie leise, mit einem Blick darauf.
Ihre Mutter antwortete nicht, sondern band ihrer Tochter die Kette um. Plötzlich hörte sie wütenden Stimmen und laute Fußschritte.
"Egal was passiert. Ich bin immer bei dir, vergiss das nicht!", flüsterte sie ihrer Tochter hektisch zu, "Und jetzt geh zum Hafen, so wie wir es ausgemacht haben!"
Das kleine Mädchen nickte. Eine Träne lief ihr die Wange hinunter. "Hab dich lieb!"
Die Mutter umarmte ihre Tochter noch ein letztes Mal. "Egal was kommt, ich bin immer bei dir. Verstanden? Ich werde immer für dich da sein."
Das kleine Mädchen nickte. "Sehen wir uns wieder?"
"Ich bin immer bei dir, ok?"
"Ich hab dich lieb."
"Ich dich auch. Und jetzt lauf!"
Das Mädchen drehte sich um und verschwand in einer kleinen Gasse. Der Mutter blieb nichts mehr übrig, als sich die Tränen abzuwischen und aufrecht auf die Männer zu warten. Sie würde stark bleiben. Sie musste stark bleiben, für ihre Tochter und für sich selbst. Die Frau wollte in Würde sterben.Zum ersten Mal in ihrem Leben war Yara alleine. Sie wusste genau, was sie zu tun hatte, aber sie konnte es nicht tun. Genauer gesagt wollte sie es nicht tun. Ihre Mutter hatte ihr erklärt, sie müsse zum Hafen. Dort wartete ihre Tante auf sie. Aber nicht mehr lange. Yara wusste, dass ihre Tante nicht sehr geduldig war und wenn sie nicht kam, würde sie einfach ohne ihr fahren. Deswegen hatte Yara sich versteckt und wartete darauf, dass das Schiff ihrer Tante endlich losfuhr. Und wirklich. Nach einer halben Stunde fuhr, das mit Abstand größte und schönste Schiff davon.
Ohne Yara. Sie will nicht zu ihrer spießigen Tante nach Spanien, um dort die Etikette zu lernen und den lieben ganzen Tag mit nichts-tun verbringen, sie will bei ihrer Mutter bleiben und ihr helfen.
"Ich sollte sie suchen gehen!", murmelte das dreijährige Mädchen. Sie kroch aus ihrem Versteck und sah sich um. Am Hafen herrschte lustiges Gedränge. Überall priesen Händler ihre Waren und Seeleute erzählten lauthals Geschichten. Yara fand so etwas schon immer interessant. Vermutlich wäre es schön gewesen, mit ihrer Tante wegzufahren. Auf einem echten Schiff. Sie blickte zu wie das Schiff in der Ferne verschwand. Dann lief sie, wen auch etwas wehmütig, vom Hafen weg auf den großen Versammlungsplatz, ein paar Straßen weiter. Und dort sah sie...
"Mutter!" Das Mädchen wollte auf sie zustürmen, aber ein paar Männer mit schwarzen Mänteln hielten sie zurück.
"Stopp Kleines! Du darfst hier nicht hin!"
Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Mutter auf einen großen Holzhaufen angebunden war. Sie sah wie einer der Männer eine Fackel nahm und...
"Kleines komm her!" Ein Mann zog sie weg. Yara schaute auf ihm. Es bestand kein Zweifel, dass das ein Seefahrer war. Er hatte zerschlissene Kleidung, lange, lockige Haare und eine Narbe verlief über sein rechtes Auge. Für gewöhnlich mochte Yara solche Leute, die konnten immer gute Geschichten erzählen, aber heute hatte sie keine Zeit für Geschichten. Sie musste ihrer Mutter helfen. Irgendwie. Das Mädchen versuchte sich loszureißen, aber der Griff blieb hart.
"Hör her! Du kannst deine Mutter nicht mehr helfen! Sie wird bald an einen besseren Ort sein aber sie wird wollen, dass du in Sicherheit bist, ok?"
"Nein", die Kleine riss sich los, "Ich muss ihr helfen. Sie hat mir auch immer geholfen."
"Yara!", hörte sie ihre Mutter plötzlich rufen.
"Mama?"
"Yara geh mit dem Mann mit! Er wird sich um dich kümmern."
Plötzlich trat einer der Männer vor und zündete den Haufen an. Die Menge johlte.
"Yara!", rief ihre Mutter noch einmal. Die Flammen lechzten höher und höher, den Saum ihres Kleides berührten sie schon. "Yara denk immer daran: Ich bin immer bei dir und pass auf dich auf! Ich hab dich lieb!"
"Komm jetzt!", rief der Mann. "Halte dir die Ohren zu und schaue nicht zurück. Deine Mutter will es so."
Yara nickte. Eine Träne lief ihr die Wange hinunter.
Der Mann nahm sie bei der Hand und lief mit ihr die Gasse hinunter, in Richtung Hafen.
Hinter ihr schrie ihre Mutter, während sie verbrannte.
DU LIEST GERADE
Königin der Meere
Historical FictionKaribik ca. 1716: Das goldene Zeitalter der Piraten. Die ganze Karibik ist voll davon, seien es große Piratenkapitäne, wie Blackbeard oder einfach kleine Plünderer, die vom langweiligen Leben am Festland genug hatten und Abenteuer erleben wollten. A...