Königin der Meere

V

„Hört her!", rief Yara, sobald sich die Mannschaft vor dem Schiff versammelt hatte. „Ich habe Neuigkeiten zu verkünden. Der Junge, den wir an Bord haben, er wird gesucht. Von Spanien, von England, von anderen Piraten. Die Besatzung jedes Schiffes, das uns begegnen sollte, wird den Jungen haben wollen. Jedes."
„Warum?", warf Rafe ein.
Yara seufzte. „Bei dem Jungen handelt es sich um George Grey, das Patenkind des Königs und Bruder von Liam Grey. Ich glaub, ich muss euch nicht sagen, wer Liam Grey ist." Yara stoppte kurz, denn der nächste Satz viel ihr schwer. Aber sie hatte keine Wahl. Yara hatte geschworen, ihre Crew niemals absichtlich in Gefahr zu bringen. Das Gelübde, welches sie feierlich vor ihrem Ziehvater abgelegt hatte, und an das sie sich immer halten würde. „Also, jeder der aussteigen will, soll jetzt vortreten. Ich schwöre euch, dass euch nichts geschieht. Ihr erhaltet jeder eine beträchtliche Menge an Gold, euren Anteil für die nächsten drei Monate, und falls ihr später in Geldsorgen geraten solltet, und ich in der Lage bin, euch finanziell zu unterstützten, werde ich euch helfen. Eure Waffen dürft ihr behalten, ebenso wie alle anderen eurer Wertgegenstände. Also, wer Angst hat und lieber auf der sicheren Seite bleibt, der soll jetzt vortreten, bevor es zu spät ist." Yara verstummte.
Ihre Crew sah unschlüssig aus, manche murmelten leise miteinander, andere schienen wohl zu überlegen, ob sie Yaras Angebot annehmen sollten.
Plötzlich trat Black Jack vor. Unruhe breitete sich bei den anderen aus, den Black Jack war niemand, der einfach so vor einem Kampf davonlaufen würde. Yara spürte, wie ihr mulmig zumute wurde. Wenn Black Jack ausstieg, dann würde die meisten anderen ebenfalls nichts mehr hier halten.
Black Jack beachtete sie gar nicht, sondern wandte sich den anderen Piraten zu.
„Ich habe mein ganzes Leben auf einem Schiff verbracht", begann er, „Und unter einigen Kapitänen gedient. Als Schiffsjunge, als Steuermann, einmal sogar als erster Maat. Ich habe Meutereien miterlebt, die meisten hab ich sogar selbst angezettelt, ich habe Gefangenschaften und Hinrichtungen gesehen und bin dem Tod mehr als ein Mal gerade noch so entkommen. Und ich sage euch, ich habe mehr Stürme erlebt, mehr Flauten und mehr Hitze, mehr Gefechte und mehr Kämpfe als ihr alle zusammen. Und viele der Kämpfe waren am Anfang aussichtslos, so wie dieser. Und das", Black Jacks Stimme wurde lauter, während er auf Yara deutete, „Ist der erste Kapitän, der uns vor einem aussichtslosen Kampf gewarnt hat. Yara Morgan mag vielleicht weder ein Mann sein, noch jemand, der immer gute Entscheidungen trifft." Er verstummte kurz. „Aber sie hat uns etwas gegeben, was uns bisher noch kein anderer Kapitän gegeben hat. Sie hat uns Zusammenhalt gegeben. Ihr war es egal, wer wir davor waren. Ihr war egal, was für Scheiße wir davor gebaut haben. Egal ob entlaufende Sklaven, Diebe oder ehemalige Marinesoldaten, Yara hat stets jeden von uns respektiert. Niemand von uns hat es je bereut, an Bord der ‚Burning Witch' zu sein, wirklich niemand. Denn durch Yara Morgan haben wir bisher immer Beute bekommen, sind Stürmen geschickt ausgewichen und haben die Marine an der Nase herumgeführt. Und auch diesmal wird es nicht anders sein. Wir werden erneut allen zeigen, das man uns nicht unterschätzten darf. Dass wir die gefürchtetsten Piraten der Karibik sind, so dass noch Jahrhunderte nach unserem Tod Mythen und Legenden über uns erzählt werden. Und wenn wir draufgehen, dann sterben wir auf den Blanken dieses Schiffes!", Er zeigte auf die ‚Burning Witch'. „Also, wer von euch Landratten wird sich am Festland verkriechen und weiterhin in Angst leben? Oder werdet ihr Yara weiterhin folgen, bis ans Ende der Welt, wenn nötig?"
„Aye", Rafe und Rhodes traten vor.
„Aye, bis ans Ende der Welt", rief Amory Stone, ein ehemaliger Soldat, der einst von Leon Smith zu Yaras Crew rekrutiert wurde.
„Bis ans Ende der Welt", rief Timbers, ein entlaufener Sklave, der nun als Koch tätig war. Obwohl er ein Holzbein und eine Hakenhand hatte, konnte er aus jedem noch so faden Lebensmittel ein leckeres Gericht zaubern.
„Aye, bis ans Ende der Welt", erklang es nun überall.
Yara atmete auf. 
„Käpt'n, wir sollten in See stechen", rief Leon Smith.
„Aye! Vorräte an Bord bringen und Anker lichten!" Die Piratin wandte sich ab und lief auf Black Jack zu. „Danke", sagte sie leise zu ihm.
„Nichts zu danken, Käpt'n. Es war nur die Wahrheit und die Crew hat eine Anregung gebraucht. Aber das war's, mehr nette Worte, wirst du von mir vermutlich nie wieder hören."
Yara nickte. Sie kannte Black Jack und wusste, dass er sein Wort halten würde.

Innerhalb einer halben Stunde war alles an Bord verstaut und die ‚Burning Witch' fuhr aus dem Hafen, hinaus in den offenen, weiten Horizont. Yara stand an Deck und betrachtete den Sonnenuntergang.
„Ich nehm mal an, du hast nen Plan, Käpt'n." Leon Smith war neben sie getreten.
Yara nickte. Sie hatte einen Plan, es war nur nicht sicher, ob dieser funktionieren wird.