Seit nun fast einem Tag hatte ich wirklich Angst vor diesem Moment. Der Abschied. Fast drei Wochen hatten wir jetzt mehr oder weniger zusammen verbracht, ohne wirklich darüber nachzudenken, was danach passieren wird. Ein, zwei Mal hatte einer von uns das Thema kurz angerissen, aber immer hatten wir das schnell wieder beendet. Gestern Abend konnte ich deswegen nicht wirklich einschlafen und ich glaube Mike ist es genauso gegangen. Aber irgendwie habe ich mich trotzdem nicht getraut, das Thema anzusprechen. Ich glaube, keiner von uns wollte wirklich darüber nachdenken. Ich zumindest hatte die Gedanken daran immer verdrängt, oder es zumindest versucht. Genieß die Zeit, hatte ich mir gedacht und jetzt standen wir hier. Die Zeit war wirklich wunderschön gewesen, aber das half mir jetzt auch nicht mehr weiter.
Arfore, Mike und ich standen am Bahnhof und in etwa einer viertel Stunde kam Mikes Zug. Dann fuhr er wieder nach Hause. Allein schon dieses Wissen machte mich so fertig. Ich konnte mir nach diesen drei Wochen einfach nicht vorstellen, wie es sein würde, mehr als nur einen halbe Stunde voneinander entfernt zu sein. Dass es letztendlich so ausgehen würde, wie es dann war, hätte ich da auch noch nicht erwartet. Natürlich konnten wir noch schreiben und miteinander reden, aber das war halt einfach nicht das gleiche. Am liebsten wäre ich mitgefahren, aber das fänden weder seine noch meine Eltern besonders gut. Also musste ich wohl hier bleiben. Wenn er doch nur älter wäre, dann müsste er nicht mehr in die Schule, dann könnte er ausziehen. Dann könnten wir immer Zeit zusammen verbringen, wenn wir wollten oder zumindest öfter als jetzt. Aber es war nunmal nicht so, noch nicht. Aber das könnte sich ja in nicht allzu ferner Zukunft ergeben.
"Hugo? Können wir mal kurz reden?"; fragte Wichtiger mich. Wir gingen ein paar Schritte von Arfore weg, so dass wir nicht mehr direkt in der Menschenmasse standen. Dort war es auch direkt etwas ruhiger, also eigentlich ein ganz guter Ort, um das Gespräch zu führen, vor dem ich mich so sehr fürchtete. Ich fand es wirklich nicht einfach, zu akzeptieren, dass wir uns für eine Weile nicht mehr sehen würden.
"Das waren echt geile Tage, oder? Also ich habs übertrieben enjoyt.", sagt er.
"Ja, safe, aber das ist halt das Ding. Du hast nicht zufällig ein Plan, wie das in Zukunft weitergehen soll?" Ein bisschen Hoffnung hatte ich schon, dass er die ultimative Lösung parat haben würde. Aber diese Hoffnung wurde direkt wieder zerstört.
"Kein Plan, ich mein, ich mein, ich geh halt noch in die Schule und so und sechs Stunden Fahrt sind halt auch bisschen viel." Es wäre alles so viel einfacher, wenn er nicht so weit weg wohnen würde.
"Ja, klar, du kannst ja nicht hier bleiben." Auch wenn ich genau wusste, dass es so war, wollte ich es immer noch nicht wahrhaben.
"Ne, ich kann nicht hierbleiben, im Gegensatz zu dir hab ich noch Verpflichtungen." Wieso war er denn bitte jetzt so sauer, er wusste doch genau so gut wie ich, dass ich auch nicht einfach ausziehen konnte oder so.
"Aber du könntest..."
"Das stimmt nicht! Das stimmt nicht und das weißt du ganz genau! Aber ganz genau!" Diese Aussage machte mich ebenfalls sauer. Wenn er das schon so ernst meinte, dann musste ich das auch richtig stellen. Im Nachhinein gesehen, hätte ich das wohl nicht sagen sollen, oder zumindest nicht in diesem Tonfall, denn das löste in ihm irgendwas aus."Hä, Junge, was bindet dich denn bitte? Ich mein, Hugo, schau mal du hockst den ganzen Tag wie so ein richtiger weirdo zu Hause und tust eigentlich nichts." Was sollte das denn jetzt, er saß doch auch nicht weniger zu Hause, als ich.
"Du gehst halt nicht mal in die Schule." Jetzt wurde er langsam wirklich unfair. Da hatten wir doch schonmal drüber geredet und er wusste doch genau so gut wie ich, dass ich dafür nichts konnte. Und er meinte das wirklich ernst, das konnte ich in seinem Gesicht lesen. "Das einzige, also Realtalk das einzige, was dich hier hält ist deine fucking Familie. Es ist nicht so..." Spätesten jetzt war er zu weit gegangen.
"Ey, sag nichts gegen meine Familie!" Auch wenn wir eigentlich was klären wollten, muss ich mich plötzlich einfach nur rechtfertigen. Bis jetzt war doch alles so gut gelaufen. Warum musste er das alles nur kaputt machen? Aber war es nicht auch meine Schuld? Selbst zu einem Streit gehörten doch immer zwei und ich war doch derjenige, der sich danach nicht mehr gemeldet hatte. Anstatt einfach was zu sagen, hatte ich mich feige zurückgezogen.
"Ja, sag ich ja nicht, aber ich mein, irgendwann muss du dich doch auch mal lösen. Du bist erwachsen, willst du mit 50 noch zu Hause wohnen oder wie? Junge du bist zwar 18, aber im Kopf bist du immer noch so 13." Ich war fassungslos. Seine Worte taten weh und obwohl ich eigentlich wusste, dass er das nicht so meinen konnte, nahm ich ihn trotzdem zu ernst. Ich meine, wenn er das alles so ernst gemeint hätte, dann wäre er doch mit Sicherheit nicht geblieben. Dann hätten wir doch mit Sicherheit nicht diese ganze Zeit zusammen verbracht. Oder?Noch als ich versuche zu begreifen, was im Einzelnen Wichtiger gerade gesagt hatte, sah ich, wie sein Zug einfuhr.
"Na dann, tschau." Ich blieb auf Abstand, damit er gar nicht erst auf die Idee kam, mich zu umarmen oder zu küssen.
"Ja, wir schreiben dann nochmal." Trotzdem kam er auf mich zu und schloss seine Arme um mich. Das war der Moment, in dem es mich dann völlig zerriss. Nur mit Mühe schaffte ich es die Tränen zurückzuhalten. Die Umarmung dauerte viel zu kurz. Aber dann löste er sich, umarmte Arfore noch einmal und ging. Als er gerade in den Zug einstieg, dreht er sich ein letztes Mal um und ich bildete mir ein, dass er tatsächlich weinte. Dann sah ich ihn nicht mehr. Ich schaute zu Arfore. Er schaute mich etwas mitleidig an."Ich hab gehört, was ihr gesagt habt. Lief wohl nicht so, wie du es dir gewünscht hättest", sagt er. "Fahren wir?" Ich nickte kurz und folgte ihm dann aus dem Bahnhofsgebäude. Auf dem Weg sagte ich:
"Du musst mich nicht mitnehmen, ich fahr Bus." Ich wollte eigentlich nicht darüber reden und deswegen wollte ich die Zeit, die ich mit Arfore noch verbracht hätte, so gering wie möglich halten. Auch wenn er es mit Sicherheit nur gut gemeint hätte, ich wollte davon einfach nichts mehr hören.
"Ok." Nach einer weiteren Umarmung trennten sich auch unsere Wege. An der Bushaltestelle standen außer mir, keine weiteren Menschen. Bis jetzt hatte ich es geschafft, meine Tränen zurückzuhalten, aber als ich merkte, wie die erste meine Wange hinunter lief, da war der Damm gebrochen. Ich beweinte in diesem Moment alles, was wir gehabt hatten, alles was wir hätten haben können und all das, was gerade in einem Zug in Richtung Deutschland fuhr. Das war das einzige mal gewesen, dass ich um uns geweint hatte.

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Tonight
FanfictionWenn alles zusammenbricht, was bleibt dann noch? Eigentlich gibt es nichts mehr, woran ich mich festhalten könnte und trotzdem klammere ich mich daran. Der Moment lässt mich ein bisschen mehr alles schlechte vergessen. Ein bisschen besser als okay. ...