Kapitel 1

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„Und, hast du dich für eine Farbe entschieden?", eine Hand legte sich auf ihre Schulter. Erschrocken zuckte sie zusammen, drehte sich um und blickte in die grauen Augen des Mannes hinter ihr. „Entschuldige Marisa, ich wollte dich nicht erschrecken.", sagte er und die Lachfältchen um seine freundlichen Augen vertieften sich ein wenig.

„Alles gut. Nein, ich habe mich noch nicht entschieden.", Marisa machte einen kleinen Schritt zur Seite, sodass der Mann seine Hand von ihrer Schulter nahm. „Du hast ja noch ein bisschen Zeit dich zu entscheiden, aber Ende der Woche wollen wir die Farbe kaufen, vielleicht hast du ja im Baumarkt eine Eingebung. In 10 Minuten wollen wir aber wieder gehen-", er wurde durch eine Frauenstimme unterbrochen, „David!" „Ich werde dann mal zu deiner Mutter gehen, sie hat ein ähnliches Entscheidungsproblem wie du.", leise über seinen eigenen Witz lachend verschwand er aus Marisas neuem Zimmer. Sie hingegen verdrehte die Augen und schaute wieder zu ihrer neuen Wand, die weiß vor ihr aufragte.

Es war komisch, nicht dass ihre Mutter einen neuen Freund hatte und auch nicht, dass sie zusammenzogen, das war ja abzusehen, aber dennoch war es komisch nun mit zwei Leuten zusammen zu wohnen, die man gar nicht richtig kannte. Die kurzen Treffen und ‚idyllischen' Familienessen waren noch lange nicht genug Zeit jemanden wirklich kennenzulernen.

Seufzend holte Marisa ihr Handy heraus und schaute auf das leere Display, nur die weißen Ziffern der Uhr leuchteten ihr entgegen und ließen sie wissen, dass er bereits 17:30 Uhr war. Sie sollte sich endlich für eine Farbe entscheiden. Sollte sie einfach die Farbe ihres alten Zimmers nehmen? Aber das Grün kam ihr doch etwas kindlich vor und schließlich war das hier ja ein Neuanfang. Vielleicht einen zarten Rosaton oder doch eher Richtung blau?

Genervt strich sie sich ihre offenen lockigen Haare aus dem Gesicht, die frische, feuchte, weiße Wandfarbe ließ ihre Haare noch mehr kringeln, als sie es sowieso schon taten. Deswegen glättete sie sie meistens, damit sie sich nicht so doof kräuselten. Denn ihre Locken waren keine kleinen schönen Kringel, sondern große Struppige Locken, die abstanden, sobald sie nicht mit Tonnen an irgendwelchen Pflegeprodukten zu schönen Locken geformt wurden. Mit dem Zopfgummi um ihr Handgelenk, versuchte Marisa ihre Haare zu bändigen. Nach 5 Minuten in etwa hatte sie eine plüschige Bommel an ihrem Hinterkopf. Vorsichtig titschte sie dagegen, um zu schauen, ob ihr Werk so auch hielt.

Dadurch, dass das mit der Entscheidung eh nichts mehr werden würde, drehte sie sich um und wollte gerade aus der Tür gehen, als ihr Nachrichtenton ertönte. Anstatt daraufhin stehen zu bleiben, lief Marisa weiter mit Blick auf ihr Handy gerichtet. Natürlich musste passieren, was passierte, die stieß mit jemandem zusammen, stolperte nach hinten und stieß mit ihrem Hinterkopf gegen den Türrahmen oder eher mit ihrem Haarknäul, sodass sie wenigstens keine Schmerzen davontrug. So viel Druck hielt der Zopfgummi jedoch nicht aus und ihre Haare ploppten auf, sodass sie vermutlich aussah wie ein Löwe, der grade einen angenehmen Mittagsschlaf hinter sich hatte.

„Aua.", vor ihr stand Jonas, der sich sein Schlüsselbein rieb. „Deine Haare sehen zwar fluffig aus, aber dein Kopf ist hart wie Stein, vermutlich ist dein Dickschädel daran schuld, der kehrt sich langsam nach außen.", den Humor hatte er definitiv von seinem Vater geerbt. „Ha ha.", mehr fiel Marisa nicht ein, da es ihr sehr unangenehm war, dass ihre Haare ein gewisses Eigenleben hatten und so aussahen, wie sie eben aussahen, wenn eine zu hohe Luftfeuchtigkeit herrschte.

Zur selben Zeit wurde Jonas, ihr Gegenüber und neuer Stiefbruder, oder sowas in der Art, rot und starrte auf den Boden, als wäre da auf einmal etwas sehr Interessantes, was er gerade jetzt ausführlich inspizieren musste. Scheinbar hatte er sich über seine direkten Worte genauso erschrocken wie Marisa. Sie kannte Jonas und ihren Vater, wie gesagt nur von gelegentlichen Essen oder wenn David mal zu Besuch war, aber selbst in den seltenen Malen, war ihr durchaus aufgefallen, dass Jonas sehr ruhig, wenn nicht sogar schüchtern war.

Dass nun so ein Ausbruch aus ihm rauskam, war doch recht überraschend. Doch bevor Marisa endlich richtig kontern konnte, wurde sie von Davids Stimme unterbrochen. „Schau mal Liebling, die beiden streiten schon wie richtige Geschwister.", alle wussten, dass es nur ein Spaß war, aber doch kam in Marisa ein beklemmendes Gefühl auf. Dieses ganze Familiending war seltsam und ging ihr eindeutig zu schnell.

Vielleicht konnte sie nachher noch zu ihrem Vater und mit ihm in den Boxring. Eine gute Runde Kickboxen würde sie jetzt ganz gut ablenken können. „Wir wollten euch Bescheid sagen, dass wir jetzt losfahren. Unterwegs halten wir noch bei deiner Lieblingspizzeria an, Mari, wie klingt das?", ihre Mutter kam auf sie zu und lächelte sie glücklich an. Marisas Haare ignorierte sie dabei gekonnt, vor allem weil ihre im Moment auch nicht besser aussahen.

Für sie ging ein Traum in Erfüllung, das wusste Marisa, aber ob sie sich so schnell einfinden könnte, das war ein anderes Thema. Natürlich freute sie sich für ihre Mutter und sie mochte David, er war auf seine schräge Art doch lustig, aber ein Zusammenleben unter einem Dach konnte sie sich noch nicht so gut vorstellen, vor allem wo sie jetzt scheinbar einen Bruder hatte. Sport würde dann heute ausfallen müssen, aber für eine Pizza würde sie das gerne in Kauf nehmen.

Als sie alle gemeinsam zu Davids Auto gingen, der Marisa und ihre Mutter dann nach Hause bringen würde, um danach zu seiner Wohnung zu fahren, erinnerte sich Marisa an ihre Nachricht. Die der Auslöser für ihren Zusammenstoß und ihren darauffolgenden peinlichen Hirnaussetzer verantwortlich war. Ihr Vater hatte ihr geschrieben und gefragt, ob sie heute ins Boxstudio kommen würde. Leicht enttäuscht schrieb sie ihm, dass sie heute nicht konnte, da sie eben erst aus der neuen Wohnung gekommen sind und nun ein weiteres ‚Familienessen' anstehen würde.

Ihr Vater und ihre Mutter hatten sich im Guten getrennt als Marisa ungefähr zwei Jahre alt gewesen ist. Er kannte David ebenfalls und die beiden verstanden sich auch recht gut, auch wenn diese Treffen immer etwas seltsam waren. Seitdem die neue Wohnung gemietet war, hatte David sie einige Male beim Boxstudio abgeholt, um ihrer Mutter den Umweg von ihrer Arbeit aus zu sparen. Für David war es kein Umweg, denn von seiner Autowerkstatt zu der Wohnung lag der Boxring auf dem Weg.

Marisas Mutter hielt es für eine gute Idee, dass David sie deswegen abholte, einerseits um sich selber den Weg zu sparen und andererseits, damit die beiden und Jonas, wenn er gezwungen wurde mitzukommen und sein Vater ihn von seiner Konsole wegbekam, sich besser kennenlernten. Dadurch waren Begegnungen zwischen ihrem Vater und dem Freund ihrer Mutter unausweichlich. Ein Glück für alle, dass die beiden sich nicht an die Gurgel gingen.

Das Essen an sich verlief sehr angenehm. Marisa bestelle eine einfache Margherita mit extra Tomatenstücken und Mozzarella. Jonas saß ihr gegenüber und spielte so lange unter dem Tisch mit seinem Handy, bis sein Vater ihn mit der Schulter anrempelte und mahnend ansah. Marisa musste sich ein Kichern verkneifen als sie sah, wie mürrisch Jonas dreinblickte, jedoch wurde er auch bei dem Mahnenden Blick seines Vaters rot, was ihn fast schon niedlich aussehen ließ. Verwirrt über ihre plötzlichen Gedanken, biss sie energisch in ihr Pizzastück.

Jonas war keinesfalls niedlich oder süß, er war nervig, mürrisch und verbrachte die meiste Zeit drinnen an irgendeinem Gerät, der Junge musste echt mal mehr rausgehen. Er hatte Glück, dass seine Haut aus genetischen Gründen leicht gebräunt aussah, ansonsten würde er aussehen wie eine wandelnde Leiche. Denn selbst durch seine dunklere Haut sah man seine Augenringe deutlich.

David fuhr sie und ihre Mutter nach Hause und während die beiden sich verabschiedeten, Jonas weiter an seinem Handy spielte, was er in dem Moment rausgeholt hatte, in dem sie ins Auto gestiegen waren und vermutlich erst wieder aus der Hand legen würde, sobald er schlafen gehen würde, wenn er überhaupt jemals schlief, ging Marisa vor, hoch in ihre alte Wohnung. Im Flur erwarteten sie bereits die ersten fertigen Kartons und auch der Rest der Wohnung sah so aus.

Ihre Jacke legte sie über einen dieser Kartonstapel und ihre Schuhe stellte sie daneben. Schuhschrank und Kleiderständer waren bereits eingepackt. Marisa lief an den Kisten vorbei zu ihrem Zimmer. Während sie die Tür öffnete, wurde sie glücklich angemaunzt und ein kleiner Kater strich um ihre Beine. „Hey Cappuccino, hast du mich vermisst?", als Antwort bekam sie ein weiteres Maunzen. Sie nahm ihren kleinen Kater hoch, er war zwar ausgewachsen, dennoch ziemlich klein für einen Kater. Zusammen mit ihm setzte sie sich auf ihr Bett und kraulte seinen Kopf, bis er schnurrend in ihrem Schoss eingeschlafen war.

Sie legte ihren Oberkörper zurück und starrte an ihre Decke. Sie hörte wie die Haustür aufgeschlossen wurde und ihre Mutter ihre Sachen ablegte. Ein einzelner kleiner Stern schien von ihrer Zimmerdecke zurück. Ein Überbleibsel aus ihrem Kinderzimmer. Sie war zu alt für sie, aber trotzdem würde sie diesen kleinen Stern vermissen, den sie damals vergessen hatte abzumachen.

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