Isaiah

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Isaiah kannte sie schon lange, die Nächte.

Viel zu viele von ihnen hatte er hinter halb angelaufenen Fensterscheiben gesessen und abgewartet, bis die Magie des Momentes ihn von dieser Welt befreien würde. Viel zu viele von ihnen waren seine Pinsel nicht in den Genuss gekommen, den Geschmack der Farben schmecken zu dürfen, die schon lange versuchten ihre verklebten Deckel endlich zu lösen.

Doch heute? Heute war alles anders.

Denn heute war die Luft in Isaiahs Zimmer zu dickflüssig geworden, als dass sie ihm genug Fantasie zum Atmen hätte liefern können.

Er hatte raus gemusst, hatte den verrosteten Knauf des petrolblauen Sprossenfensters aufgerissen und war hinausgeklettert. Einfach so.

Der Boden unter seinen Füßen hatte leicht nachgegeben, vielleicht hatten auch seine Füße über dem Boden leicht nachgegeben, er hätte es nicht sagen können.

Er hätte vieles nicht sagen können, und doch so unendlich viel mehr, als es viele andere tun hätten können. Sie hätten nur die richtigen Fragen stellen müssen, er hätte ihnen Romane in die Ohren schreiben können, doch das würden sie nie verstehen.

Isaiah wusste das, besser als alles andere wusste er dies & doch brannten ihm jeden Tag die mit Enttäuschung gefüllten Blicke seiner Eltern ein weiteres Stück seines Herzens weg, hinterließen nichts anderes als rauchende Rabentränen.

So hatte sein Bruder die Asche seiner Zigaretten immer umschrieben, wenn die Jungen wieder einmal kaum dem Fangenspiel von deren Rauch, Zimmerstaub und Farbgeruch mit den Augen zu erfassen vermochten.

Vielleicht waren es die Rabentränen gewesen, die Isaacs Herz am Ende schwarz gefärbt hatten. Die es einäscherten, bevor es überhaupt tot gewesen war. Die es ganz und gar niedergebrannt hatten und seine Seele in Fetzen gerissen hatten, als wäre sie ein Blatt Papier gewesen. Als wäre sie eines der Gemälde gewesen, das die beiden nicht gemocht hatten.

So war es meistens abgelaufen.

Abwechselnd hatten sie Palletten, Stifte und Pinsel jongliert, dass es jedem anderen schlecht geworden wäre, hätte er nur eine Sekunde zu viel zugesehen. Faszination Farbenspiel füllte dann die Luft, fast wie Plätzchengeruch im Winter, oder wie Benzin an einer Tankstelle. Atmet man zu viel davon, dann verschwindet die Sehnsucht nach diesem Geschmack in unserer Nase bald, und beginnt langsam, wie ein lauerndes Raubtier im Rhododendronstrauch, überzulaufen, zu brodeln, und den Rand des Topfes zu erreichen.

Doch diese Gefahr war für Isaac und Isaiah nie ein Problem gewesen, denn war die Sauerstoffflasche des einen leer, so hatte der andere mindestens noch doppelt so viel übrig.

Sobald die Sonne ihren alltäglichen Spaziergang über dem Himmel langsam dem Ende zuzuneigen schien, ging das Licht an, denn die Brüder waren erst auf der Spitze des Berges angekommen, nicht bereit, bereits den Abstieg zu meistern.

Sie schliffen und schlichteten; Farbschicht über Acrylfarbe, über Bleistift, über Leinwand. Man hätte sie als Maurer der Kunst bezeichnen können, vielleicht hätten sie dies sogar selbst getan, wären sie auf diesen Gedanken gekommen.

Und so hätte es bis ans Ende der Zeit & das dieser Welt weitergehen können, wäre es nach Isaiah gegangen. Seine Welt drehte sich um diese Stunden, um jede Sekunde davon wirbelte sein kleines Herz, schlug schneller und schneller im Fegefeuer des Eifers, jeden Moment schneller, bis er aufpassen musste, damit es nicht abhob.

Doch es war nicht nach Isaiah gegangen.

Es war nach Isaac gegangen.

Und in diesem hatte mehr geschlummert, als irgendwer jemals hätte wecken können.

Vielleicht hatte in ihm auch Nichts geschlummert, für Isaiah verdrehten sich die Fäden der Wahrheit, wenn er versuchte dieses Puzzle zu einem Bild zusammenzufügen. Doch die Teile waren nicht vollständig, würden es nie sein, und waren es nie gewesen.

Auch Isaac war nicht vollständig gewesen, an dem Morgen, als sein Bruder ihn gefunden hatte. Und wenn doch seine Haare verstrubelt, seine Zähne pfefferminz-weiß, seine Hautschuppen schillernd wie Porzellan gewesen waren, fehlte ihm sein Herz, seine Seele, die Fantasie und das Leben.

Isaiah war nicht dumm, er wusste, dass es nicht die Rabentränen gewesen waren, die seinem Bruder die Stricke der Realität um den Hals geflochten hatten.

Nein.

Es war die Liebe gewesen, die diese schrecklichen Schmetterlinge in seinem Körper langsam in Schaben verwandelt hatte, bis es sich ausgeschabt hatte, und nichts mehr in ihm übrig gewesen war.

Isaac war gegangen, Isaiah war geblieben, doch was war ihm noch geblieben? Alles, außer die Liebe und sein Bruder, denn von Tag eins an hatte er sich geschworen, der Liebe abzuschwören, sollte sie es jemals wagen auch an seine brüchige Tür zu klopfen. Er würde sie hinaus barrikadieren, abschließen und das kalte Metall des Schlüssels seine Speiseröhre hinunterfallen spüren, wäre dies nötig, um die Liebe zu töten.

Denn Liebe, die brauchte Isaiah nicht, denn Liebe, die hatte Isaiah um seinen Bruder gebracht.

Und eigentlich konnte er nichts besser als verzeihen, doch der Liebe, der würde Isaiah nie verzeihen.

the night we met ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt