Vincent van Gogh (II)

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Es waren 272 gewesen.

272 Sekunden, die er vor Elisha mit seinem Fahrrad angekommen war.

4 Minuten und 32 Sekunden, in denen er dem Flüstern des Korn- und Mohnblumenmeeres gefolgt und an dem Ziel, dessen Existenz er bis zum Zeitpunkt des Erreichens nicht einmal in seine Kopf gehabt hatte, angekommen. Es war eines der Ziele, welche man sich nicht steckt, oder sie zwanghaft zu erreichen versuchte, sondern mehr eines dieser Art, welche man meisterte, ohne es zu merken. Eines der Sorte, bei dem es dauert zu realisieren, dass man an dem Punkt angekommen ist, welcher Erfolg und Reinheit im Herzen bedeutete.

Isaiah war nie hier oben gewesen. Nie auf der Platte, welche eingebettet in Blumen und im leisen Summen der Hummels die Krone der Stadt bildete.

„Dort oben", hatte Isaac eines Tages zu ihm gesagt, „Dort oben berühren sich Himmel und Erde, vereinen sich zu ein und derselben Person, und du wirst Zeuge davon sein. Jeden Abend kannst du Zeuge davon sein, jeden Tag, jede Nacht. Dort oben bist du der König des geweihten Landes, oder hörst wenigstens für einen oder zwei Momente auf dich selbst zu belügen. Dort oben, Isaiah, dort oben liegt dir alles zu Füßen."

„Wann darf ich das alles sehen?", waren die Wort fast lautlos über Isaiahs Lippen gehuscht. Unsichtbar, schattenartig.

„Wenn die Zeit gekommen ist."

„Wann weiß ich, dass es soweit ist?"

„Wenn du dort oben stehst, und nicht weißt, wie du dort hinauf gekommen bist. Dann wirst du die Kunst des Lebens in deinen Adern pochen spüren."

Und so traten die beiden sich entgegen, Isaiah und die Kunst des Lebens. Fast wie alte Freunde begrüßten sie sich und ein Keim, der viel zu lange in der dunkelsten Kammer seines Herzens gelegen hatte, begann Hoffnung zu schöpfen. Hoffnung eines Tages doch den Baum bilden und bauen zu dürfen, der des Jungens Zukunft und Träume geschickt in seine Zweige einzuflechten wusste.

„Du hast mir ein Geschenk mitgebracht, nicht wahr, mein Junge?", raunte der Wind in das Herz, packte den Keim und wirbelte ihn weiter hinauf, wo die Wände begannen aufzureißen und Licht hineinzulassen. Und was kann ein Keim mehr wollen, als Licht?

Isaiah gab dem Geflüster der Wolken keine Antwort, so hätten die meisten berichtet, doch sie hätten gelogen.

Isaiah gab dem Wispern des Himmels sehr wohl das, nach was es verlangt hatte. Er nutzte nicht seine Stimme, gestikulierte, artikulierte nicht, sondern blieb still.

Doch sah man genau hin, dann begannen seine Hände leise die Geschichte der Freiheit zu erzählen. Die Staffelei, die ihre Füße fest in den Boden rammte, um der Leinwand Halt gewähren zu können, quietschte leicht, so lange war sie nicht benutzt worden. Die Acrylfarben atmeten tief die Sommernachtsluft ein, die sie so lange nicht zu spüren bekommen hatten, und auch die Borsten der Pinsel tanzten, als dürften sie endlich ihre lang unterdrückte Bestimmung zeigen.

Isaiah wusste genau, wie er dieses Bild nennen wollte, denn, alle berühmten Künstler gaben ihren Werken Namen.

Und er malte nicht für sich, wie er unter dem Schein dieser kunterblauen Nacht feststellen musste.

Und er malte nicht für Isaac, wie er es die letzten Jahre getan hatte.

Nein.

Er malte für sie. Das Mädchen in seinem Geschichtskurs, das mit ihrem Lächeln Mauern hätte brechen können.

Isaiah hätte sie lieben gedurft, doch er hatte nicht gewollt.

Sie hatte nie verstanden, wieso.

the night we met ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt