Kapitel 1 - Anders als die anderen

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Heute ist ein verregneter Tag im Spätsommer. Die kalte Jahreszeit kündigt sich immer deutlicher an. Yugi seufzt während er am geöffneten Dachfenster steht und nach draußen sieht. Die Blätter der Bäume haben sich schon braun und rot gefärbt. Obwohl es noch recht warm ist, fröstelt er und zieht den Reißverschluss seiner blauen Lieblingsjacke noch höher. Zum Glück sind bald wenigstens Herbstferien! Freut sich der junge Mann. Zwei Wochen keine Schule. Das bedeutet für ihn: zwei Wochen, in denen sich niemand über ihn lustig macht. Zwei Wochen, in denen er in den Pausen nicht allein in einer Ecke des Schulhofes sitzt. Zwei Wochen, in denen er keine Angst davor haben muss, im Unterricht dran genommen zu werden und vor allen sprechen zu müssen. Zwei Wochen, in denen er auf dem Schulweg nicht drangsaliert wird... Yugis Blick verschwimmt hinter einem Vorhang aus Tränen und er unterdrückt ein Schluchzen. Wieso können mich die anderen nicht einfach zufrieden lassen? Vor einiger Zeit hatte er sich nichts mehr auf dieser Welt gewünscht als Freunde, aber mittlerweile möchte er bloß noch in Ruhe gelassen werden. Ihm würde es schon reichen, wenn die anderen Mitschüler ihn ignorieren würden. Stattdessen lachen sie über ihn, weil er für einen fast 17-jährigen Highschool-Schüler zu klein ist. Er ist auffallend dünn und hat eine recht helle und leise Stimme. Dazu große fliederfarbene Augen und einen sehr blassen Teint. Insgesamt entspricht Yugis Erscheinungsbild nicht seiner Altersgruppe. Außerdem machen sich die anderen aus seiner Schule über ihn lustig, weil seinem Großvater ein Spieleladen in der Stadt gehört und Yugi immer noch sehr gern spielt. Vor allem Duel Monsters! Der Junge liebt dieses Spiel regelrecht und er beherrscht es nahezu perfekt. Es gibt keine Regel und keine Strategie, die er nicht kennt. Nicht umsonst ist er der König der Spiele. Diesen Titel hat er sich durch viele Siege über regionale Champions wirklich verdient. Wenn er seine Karten in den Händen hält fühlt es sich für ihn an, als wäre er eins mit den Monstern. Als wären sie seine Freunde, die ihn beschützen, mit ihm wilde Abenteuer erleben und ihm Mut machen. Früher haben noch ein paar seiner Mitschüler ab und an mit ihm Duel Monsters gespielt, aber als Yugi immer besser wurde und er ihnen vom Herz der Karten erzählt hat, haben sie ihn ausgelacht und ihn ausgeschlossen. Dabei macht der Glaube an das Herz der Karten einen echten Duellanten aus. Zumindest in seinen Augen. Jetzt entfährt dem Jungen doch ein leises Schluchzen und er wischt sich mit dem Ärmel die Tränen vom Gesicht.

Großvater sollte das besser nicht mitbekommen. Er macht sich ohnehin schon oft Sorgen um seinen Enkel. Yugi und er leben zusammen in dem Haus, wo sich im Erdgeschoss auch der Spieleladen befindet. Im Zimmer des jungen Duellanten ist es ganz schön kalt geworden und Yugi schließt das Fenster. Dabei fällt sein Blick auf die Schulbücher auf seinem Schreibtisch. Er hatte vorhin nur eine kleine Pause vom Lernen machen wollen und war dann in seinen Tagträumen versunken- wie so oft. Mit einem widerwilligen Schnauben macht er sich daran, wenigstens noch seine Hausaufgaben für den nächsten Tag zu erledigen. Dann ist das Gelächter morgen vielleicht nicht ganz so groß, falls ihn ein Lehrer im Unterricht drannimmt.

Am nächsten Tag ist Yugi schon früh auf den Beinen. Er macht sich immer sehr früh auf den Weg in die Schule, damit er unterwegs nicht von Joey und Tristan abgepasst wird. Die zwei gehen in die Stufe über ihm und haben ihn schon seit Monaten auf dem Kieker. Sie lassen keine Gelegenheit aus, ihn zu demütigen. Manchmal bleibt es bei ein paar Drohungen. Meistens aber packt einer der Beiden den Kleinen von hinten, zieht ihn am Kragen hoch und spuckt ihm dann ins Gesicht. Der andere feuert seinen Kumpel lauthals dabei an. Danach bekommt Yugi häufig noch einen Tritt oder eine Ohrfeige und die zwei größeren Jungs rennen lachend weg.

Als Yugi sich wie immer hektisch von seinem Großvater verabschiedet, schaut dieser ihm mit einem sorgenvollen Blick hinterher.

Wie kann er seinem Enkel bloß helfen? Es schmerzt ihn unglaublich, dass er so große Probleme mit den anderen in seiner Schule hat. Auch wenn der Kleine ihm kaum etwas erzählt, bekommt er natürlich täglich mit, wie traurig und ängstlich der Junge ist. Vielleicht kann ich ihm ja etwas Schönes von meiner nächsten Ausgrabung in Ägypten mitbringen, überlegt er. Morgen ist es so weit: er wird mit Professor Hawkins, einem sehr guten Freund, ins Land der Pharaonen reisen und dort an einer archäologischen Ausgrabung teilnehmen. Es gefällt ihm zwar gar nicht, dass er seinen Enkel für eine Woche allein lässt, aber Yugi hat darauf bestanden, dass sein Großvater fährt. Seufzend macht sich Salimon Muto auf den Weg in seinen Laden.

Yugi umarmt seinen Großvater ganz fest, bevor dieser durch das Drehkreuz am Flughafen verschwindet und sich auf den Weg zu seiner Maschine macht, die ihn nach Ägypten bringt.

Komm bitte bald heil wieder zurück! denkt er flehend als er sieht, wie sein Großvater auf die Gangway heraustritt. Er blinzelt ein paar Tränen weg, dreht sich dann herum und geht zurück zur S-Bahnhaltestelle vor dem Flughafen. Gerade als er um die Ecke biegt, bemerkt er im Augenwinkel eine Bewegung und im nächsten Moment spürt er, wie er von hinten geschubst wird und taumelt auf die Straße. Reifen quietschen und es ertönt ein wütendes Hupen. „Hey, pass doch auf!" ruft ihm der Fahrer des Wagens beim Ausweichen noch zu, bevor der Wagen dann mit aufheulendem Motor weiterfährt. Yugi rappelt sich hastig aber benommen auf und überquert die Straße. Sein Herz schlägt ihm bis zum Hals als er sich umdreht und plötzlich Joey erkennt, der auf ihn zuläuft. „Nicht so schnell, du Frettchen!" ruft er und erhöht sein Tempo noch. Yugi keucht auf und rennt los. Nein! Bitte nicht! Verzweifelt sieht er, wie der Abstand zwischen ihm und Joey immer kleiner wird. Gleichzeitig ringt der Kleine nach Luft und wird immer langsamer. Da wird er auch schon von hinten gepackt und abrupt herum gerissen. „Ich hab dir doch gesagt, dass wir uns wiedersehen" sagt Joey und verzieht seine Lippen zu einem bösartigen Grinsen. Yugi schnürt es bei dem Anblick vor Angst den Hals zu und er beginnt zu zittern. „Wie süß, hat der kleine Schisser etwa Angst?" höhnt Joey. Yugi ist wie betäubt und kann sich nicht rühren. Egal, wie sehr er es möchte, sein Körper gehorcht ihm einfach nicht. Seufzend senkt er den Kopf und ergibt sich in sein Schicksal.

Mit einem Klick fällt die Haustür hinter Yugi ins Schloss und dieses Geräusch lässt bei ihm alle Dämme brechen. Er sinkt im Hausflur in sich zusammen und weint. Alles um ihn herum ist vergessen: einzig der Schmerz in seinem Magen ist noch da. Er zittert am ganzen Körper als er an das denkt, was ihm gerade passiert war: Joey hatte ihn in eine Seitengasse gezerrt, ihn beschimpft und ihm seine Duel Monsters Karten abgenommen. Ohne Grund. Einfach so, weil er es konnte. Er hatte sich über den Kleinen lustig gemacht und dann eine seiner Karten vor seinen Augen zerrissen. Ausgerechnet seine Lieblingskarte: den Schwarzen Magier! Yugi war außer sich vor Wut und in dem Moment vergaß er sogar seine Angst. Er war dann auf Joey losgegangen. Natürlich war er aber zu schwach, um einen Treffer landen zu können. Joey seinerseits verpasste Yugi einen heftigen Schlag in die Magengegend, der den Kleinen zu Boden gehen ließ. Dann warf er Yugis Karten allesamt achtlos in den Dreck und verschwand.

Yugi schleppt sich in sein Zimmer hoch und legt mit zitternden Händen seine Karten auf den Schreibtisch. Der schwarze Magier ist in mehrere Teile zerrissen. Die einzelnen Schnipsel sind nass und schmutzig. Yugis Augen brennen wie Feuer, aber sie sind leergeweint. Der Junge legt sich in sein Bett, zieht die Beine ganz eng an den Körper und umschlingt sie mit den Armen. Dann schließt er die Augen und schläft vor Erschöpfung fast im selben Moment ein.

Yugioh! Puzzleshipping - SeelenspiegelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt