Kapitel 6 - Ohne dich

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Yugi starrt auf das Wasser, das wie ein großer grauer Spiegel vor ihm liegt. Immer wieder tanzen kleine Kreise über die Oberfläche, wenn ein Regentropfen darauf gefallen ist. Noch vor einiger Zeit war er oft mit Yami hier im Park. Stundenlang hatten sie hier gesessen und sich unterhalten. Der Pharao mochte diesen Ort, genau wie Yugi. Kein Tag verging, an dem der Kleine seinen Freund nicht vermisste, keine Angst um ihn hatte. Wo ist er bloß? Ob er mich auch vermisst?

Seit der Andere verschwunden ist, hat sich in Yugis Leben viel verändert: er lacht nicht mehr, verbringt den Großteil seiner Zeit wieder allein, spricht kaum und weint viel. Es ist so, als wäre auch ein Teil von ihm fort: der mutige Teil, der ihn vor der Einsamkeit in Yugi beschützt hatte. Nun war er wieder auf sich allein gestellt. Meist flüchtet er sich in seine Tagträume, in denen Yami noch immer bei ihm ist. Tea, Joey und Tristan besuchen Yugi zwar regelmäßig im Laden, doch auch sie sind mit Yugis Trauer überfordert, sodass sie immer seltener vorbei kommen. Inzwischen vermeiden sie es ganz, mit Yugi über Yami zu sprechen, denn auf dieses Thema reagiert der Kleine sehr sensibel. Er fühlt sich einfach so furchtbar einsam!

Auch jetzt fragt sich Yugi, wieso Yami nicht zurück kam. Hatte er genug von ihm? War Yugi ihm lästig geworden?

Plötzlich spürt der junge Mann ein schmerzhaftes Ziehen am Oberkörper und er fasst sich automatisch an die Stelle. Erschrocken sieht er auf seine Finger- an ihnen klebt frisches Blut! Nicht schon wieder...! Immer wieder geschehen seit einiger Zeit Dinge, die sich Yugi einfach nicht erklären kann: Zum Beispiel hat er jede Nacht diese schlimmen Albträume, in denen er an einem dunklen, kalten Ort eingesperrt ist. Nur das Gesicht und das böse Lachen des Magiers tauchen immer wieder auf. In seinen Träumen verfolgt ihn dieses Lachen und das tückische Grinsen des Zauberers, doch bevor dieser ihn packen kann, wacht er meist schweißgebadet mitten in der Nacht auf und sein Herz jagt dann durch seine Brust, als wolle es zerspringen. Das sind die Momente, in denen er den Pharao so sehr vermisst, denn in seiner Gegenwart hatte Yugi nie Angst. Auch wenn er und Yami sich nie körperlich berühren konnten, wusste er einfach, dass er nicht allein war.

Manchmal spürt Yugi von jetzt auf gleich starke Schmerzen. Mal fühlt es sich so an, als würde ihm Jemand mit einer brennenden Klinge tiefe Schnitte zufügen. Immer wieder findet er an seinem Körper Wunden, die zu den Schmerzen passen ohne zu wissen, woher sie stammen. Mal fühlt es sich so an, als bekäme er Fausthiebe in die Seite. Und am schlimmsten war es, wenn er spürte, wie ihm die Luft wegblieb. So als würde seine Kehle zugedrückt. Natürlich erzählte er davon nichts, denn ohnehin machten sich alle schon große Sorgen um ihn und er wollte keinem zur Last fallen.

Traurig seufzt Yugi auf und macht sich mit Tränen in den Augen auf den Heimweg. Hier hält ihn nichts mehr.

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Atemu. Mein Name ist... Atemu. Der Pharao starrt den Magier aus geweiteten Augen und mit offenem Mund an. Plötzlich tauchen vor seinem inneren Auge Bilder aus längst vergangenen Zeiten auf: er trägt ein helles Leinengewand, auf seinem Kopf ruht goldener Schmuck. Er kann das Gewicht der goldenen Halsreife auf seiner Brust spüren, den warmen Stoff auf seiner Haut fühlen. Er sitzt auf einem Thron- dem Thron des alten Ägyptens! Kein Zweifel: er ist König Atemu, der Herrscher des Landes am Nil. Als er seinen Blick um sich schweifen lässt, sieht er seine Diener, die gleichzeitig seine Freunde sind... Moment, wer ist das? Etwas abseits erblickt der Pharao einen jungen, hochgewachsenen Mann mit kurzen braunen Haaren und stechend blauen Augen. Seine Gesichtszüge sind edel, aber als der Blick des Pharaos seinem begegnet, erkennt Atemu darin nur Verachtung.

Mit Tücke in den Augen betrachtet der Magier seinen erstarrten Gefangenen und sein Gesicht ist zu einer grotesken Fratze geworden. Im nächsten Moment spürt der Pharao, wie ihm die Luft wegbleibt, denn der Fremde umfasst mit einer Hand seinen Hals und drückt so seinen Körper nach oben gegen die Wand. „ICH hätte Pharao sein sollen- nicht du!" schreit der Andere. „MIR war es bestimmt auf dem Thron Ägyptens zu sitzen. Nicht dir, du Ratte! Ich schwöre dir, diesmal bringe ich dich um!" die Stimme des Mannes wird immer leiser in Yamis Ohren, denn er droht in den Armen der Bewusstlosigkeit zu versinken. Da lässt ihn der Andere unvermittelt los und Yami fällt zurück in seine Ketten, die sich sofort schmerzhaft um seine Hände und Füße zusammenschließen, sodass er halb benommen vor Schmerz aufschreit. Als sich die Schleier vor seinen Augen langsam lösen sieht Yami, wie der Fremde das Millenniumspuzzle in den Händen hält und diabolisch grinst. „Was... hast du vor?" keucht der Pharao erschrocken und die Augen des anderen verengen sich zu schmalen Schlitzen. „Du bist mir das letzte Mal in die Quere gekommen mit deinem Millenniums-Hokuspokus. Jetzt ist Schluss damit. Du gehörst MIR!" Damit legen sich seine Hände um das Puzzle, der Magier schließt seine Augen und murmelt ein paar düstere Worte in einer alten fremden Sprache. Der Raum wird direkt von einem tiefen Surren erfüllt und das Puzzle glüht in einem dunkelroten Licht. In Yamis Brust wütet ein unfassbarer Schmerz, der ihm neuerlich den Atem raubt. Es ist, als zerquetsche eine düstere, kalte Hand sein Herz. Er schließt seine Augen, fasst sich an die Brust und plötzlich sieht er Yugi vor sich. Sein schmaler blasser Körper windet sich vor Schmerzen in der Dunkelheit und der Junge keucht mit schmerzverzerrtem Gesicht auf.

„Ich bin König Atemu" murmelt der Pharao leise und eine Träne tropft von seiner Wange.

Mit einem lauten Knall fliegt in dem Augenblick das Millenniumspuzzle auseinander und die einzelnen Teile verschwinden in einem Sog aus Schwärze. Atemu bäumt sich auf. In seinen Augen steht das blanke Entsetzen und in seiner Stimme ist die nackte Verzweiflung zu hören „NEEEIIIN! Yugi....!"

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Ich sterbe. Hier und jetzt. Allein.

Yugi liegt in seinem Bett. Ein wahnsinniger Schmerz wütet in seiner Brust, schnürt ihm den Atem ab. Nur die Dunkelheit in seinem Zimmer wird Zeuge seiner Qualen. Er will schreien, aber er kann nicht. Nur ein leises Keuchen verlässt seine Lippen. Mit weit aufgerissenen Augen fasst er sich an die Stelle, wo sich sein Herz vor Schmerzen aufzubäumen scheint. Der Kleine wirft sich auf seiner Matratze hin und her, kämpft mit der Übelkeit- und verliert. Mit letzter Kraft beugt er sich zur Seite und übergibt sich auf den Fußboden. Er atmet noch einmal ein. Die Luft scheint seine Lungen zu verbrennen.

Nichts. Um ihn herum ist... NICHTS.

Plötzlich sieht Yugi in der Schwärze das Gesicht des Pharaos vor sich. Die rubinroten Augen des Größeren sehen direkt in seine und berühren etwas tief im Inneren des Kleineren. Ich ertrinke, aber es fühlt sich gut an endlich wieder diesen Blick auf mir zu spüren. Da ist nur noch diese Tiefe, die ihn immer an Yamis Augen fasziniert hat. Die Angst ist von jetzt auf gleich verschwunden und an ihre Stelle tritt eine unfassbar große Sorge um den Pharao, dass dem Kleinen endgültig die Luft wegbleibt. Bilder ziehen vor seinem inneren Auge vorbei: seine erste Begegnung mit dem Größeren. Die gemeinsamen Duelle. Wie sie sich gemeinsam die Nächte um die Ohren gehauen hatten, um neue Strategien für ihre Gegner auszutüfteln. Die Grübchen um Yamis Mund, wenn er lachte. Die feinen Falten, die sich auf seiner Stirn zeigten, wenn er grübelte und dachte, Yugi würde es nicht bemerken... Wie sich seine Haut wohl anfühlt? Ist sie eher kühl und rau, oder warm und weich? Solche und ähnliche Gedanken drängen sich in letzter Zeit immer häufiger zwischen die Erinnerungen an den Pharao. Moment, wo kommt DAS denn jetzt her?! Eine Frage tropft langsam wie flüssiges Wachs in Yugis Bewusstsein: ist das LIEBE? Habe ich mich in Yami verliebt?

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„...Ich weiß um das Band, das dich mit diesem mickrigen Jungen verbindet, Pharao. Oder sollte ich besser sagen: verbunden hat?..." Yami hängt noch immer keuchend in seinen Ketten und die Worte des Magiers dringen nur gedämpft an sein Ohr. Der Größere hat die Augen geschlossen und sieht noch immer Yugi vor sich. Allerdings sieht er jetzt nicht mehr den Yugi, der sich vor Schmerzen windet, sondern einen lächelnden Yugi. Wie oft hatte der dieses Lächeln schon vom Kleineren geschenkt bekommen? 100 mal? 1.000 mal? 10.000 mal? Trotzdem konnte er sich daran einfach nicht satt sehen. Diese amethystfarbenen Augen. Es beruhigte ihn, Yugi so lächeln zu sehen. Wie gern würde er ihn berühren können! Ihn in seine Arme schließen, damit ihm nichts passieren konnte. Beim Gedanken daran, Yugis Haut an seiner zu spüren, fühlt sich die Wand in seinem Rücken plötzlich nicht mehr ganz so kalt an. Der Schmerz in seiner Brust ist nicht mehr ganz so intensiv. Der Pharao träumt sich zu seinem Freund, um so der Enge des Kerkers und der Stimme des Magiers zu entkommen, während dieser weiterspricht „... Doch dieses Band ist nun zerschnitten. Dein Milleniums-Hokuspokus ist vorbei. Du bist ALLEIN und du gehörst MIR...!" Der finstere Mann beugt sich zum Pharao hinab und starrt ihn hasserfüllt an. Atemus Augen sind noch immer geschlossen als er ruhig spricht „Ich bin nicht allein." Und ein sanftes Lächeln breitet sich auf den Zügen des Pharaos aus.

Yugioh! Puzzleshipping - SeelenspiegelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt