Im Kampf, der irgendwann ein Ende hat

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Blinzelnd öffnete sie ihre Augen, was bei dieser Helligkeit mehr als nur mühsam war. Sie richtete sich langsam auf und versuchte den Fokus ihrer Augen durch Reiben zu verbessern. Trotzdem blieb alles schwarz-weiß.
Wo war sie?
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Um sie herum waren Bäume. Es waren Fichten. Sie sah sie klar und deutlich, aber nirgendwo ein Ende.
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Ihr Kopf drohte zu explodieren. Sie wollte weg, schrie um Hilfe. Man konnte das Echo hören, aber jemand, der ihr helfen könnte, hörte es nicht.
Sie drehte sich im Kreis, versuchte einen Ausgang aus diesem Labyrinth zu finden. Auch wenn es hoffnungslos aussah, aufgeben war zu keiner Zeit eine Option.
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Sie rannte mit der Aussicht etwas anderes als kahle Bäume zu finden los.
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Sie lief um ihr Leben, obwohl sie keine Leiden hatte, wenn man die Kopfschmerzen außen vor ließ. Niemand verfolgte sie, sie musste keinen Hunger leiden, keinen Durst und doch sehnte sie sich nach etwas.
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Sie rannte. Ihre Beine konnten sie nicht mehr lang tragen, stoppen konnte sie sie trotzdem nicht. Als wäre sie nicht mehr Herr ihres eigenen Körpers. Als hätte jemand anderes die Macht darüber. Sie rannte.
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Und dann sah sie den Abgrund. Immer und immer näher kam sie ihm. Auf einmal verlangsamte sich ihr Tempo. Es kam ihr vor aus würde sie das ganze in Zeitlupe aus der Sicht einer dritten Person sehen. Wenige Sekunden späte sah sie erneut durch ihre eigene Augen.
Sie wollte stehen bleiben. Die Aussicht genießen.
Doch sie lief, rannte und fiel. Tief. Tiefer. Und noch tiefer.
Solange bis sie auf dem Wasser aufschlug und untertauchte.
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Sie spürte nichts mehr. Sie sah nichts mehr.
Sie war voll und ganz umgeben von Dunkelheit.
Sie wollte an die Oberfläche schwimmen.
Aber wo war noch einmal oben?
Es wäre auch egal, denn sie ging wie ein Stein immer weiter unter, das wusste sie.
Ihr Blick war entgegen ihrer Sogrichtung gerichtet. Sie meinte so etwas wie Stimmen von dort zu hören und etwas wie einen Lichtkegel zu sehen, doch sie sank weiter und weiter.
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Sie spürte die Tränen auf ihren Wangen.
Konnte man das überhaupt? Im Wasser?
Irgendwann war sie am Grund des Sees angekommen.
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Ihre Füße berührten ihn und plötzlich fehlte ihr der Sauerstoff in ihren Lungen.
Eilig stieß sie sich von der schlammigen Oberfläche ab und schwamm mit großen Zügen bis nach oben.
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Sie griff nach der Hand, die sich in ihre Richtung streckte und wurde aus dem Wasser gezogen.
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Ein Schrei.
Ihr Herz raste. Wahrscheinlich war es noch nie so schnell.
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Er war ebenfalls aufgewacht, hatte das kleine warm leuchtende Nachtlicht angeknipst und strich ihr sanft über den Rücken. Schweratmend starrte sie ihr Spiegelbild an, das gegenüber des Bettes abgebildet war.
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„Willst du drüber reden?“
Sie schüttelte ihren Kopf. „Nicht jetzt“, ergänzte sie einige Momente später.
„Meinst du, du kannst wieder schlafen? Soll ich dir einen Tee machen?“
Erneut lehnte sie mit einem Kopfschütteln ab.
„Geh doch eine Runde laufen, das tut dir doch sonst auch immer gut. Es ist schon 6. Die Sonne müsste also bald aufgehen“.
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Sie schätze die Bemühungen von ihm sehr und sah ihn in der Reflektion an. Er wusste, dass sie dankbar dafür war.
Einige Augenblicke später stand sie auf, sammelte ihr sieben Sachen und verließ die Wohnung.
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Es war kühl, als sie vor der Haustür ankam. Schnell drückte sie die Zufallswiedergabe und verstaute ihr Gerät in der Jackentasche.
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Sie lief heute eine andere Strecke. Mal durch den Park.
Es waren nicht viele Menschen unterwegs. Nur der ein oder andere Hundebesitzer.
Die Straßen waren auch vergleichsweise leergefegt.
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Es war anders.
Es war bewölkt.
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Unglücklicherweise erzielte das Laufen nicht den von ihr gewünschten Effekt. Sie steckte immer noch zutiefst in Gedanken und war allzeit bereit zu flüchten. Sie hatte Angst.
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In der Wohnung zog sie sich lieblos die Schuhe aus und legte auch das Handy und die Kopfhörer achtlos bei Seite.
Schnellen Schrittes ging sie in das Badezimmer direkt an ihm, der sich gerade frisch rasiert hatte, vorbei und stellte sich mit samt Sportkleidung unter die Dusche.
Das Wasser dreht sie auf die kälteste Stufe und öffnete den Hahn.
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Er blickte verwirrt drein.
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Was war ihr Ziel?
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Sie wollte aufwachen, denn sie fühlte sich immer noch, als würde sie in ihrem Traum festhängen. Doch wieder scheiterte ihr Versuch.
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Sie entledigte sich ihrer Kleidung und ging bei durchschnittlichen Temperaturen duschen.
Skeptisch beobachtet er sie und räumte die eiskalte und nasse Kleidung bei Seite.
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In der Küche warf er die Kaffeemaschine an und starte verloren aus dem großen Fenster.
Was war mit ihr los?
Zu gern würde er es wissen, doch er wusste auch aus Erfahrung, dass sie kommen würde, wenn sie wollte. Sie wusste, dass er ihr immer und in jedem noch so ungünstigen Zeitpunkt zuhören würde. Bedingungslos würde er immer für sie da sein. Egal, was je passiert ist und passieren wird.
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Plötzlich spürte er warme Lippen an seinem Nacken.
Er dreht sich zu dem Häufchen Elend um.
„Ich- Ich weiß einfach nicht-“.
„Es ist okay, komm her“, entgegnete er verständnisvoll und schloss sie in seine starken Arme.
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Nach einigen Minuten löste sie sich aus der Umarmung und verschlang ihn mit ihren intensiven Blicken.
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Er wusste, was sie in Aussicht hatte und legte seine Lippen auf ihre, zog sie an der Hüfte nah zu sich. Er wusste, das es im Moment nicht viel mit Liebe zu tun hatte, mehr mit dem geliebt zu werden, doch er könnte ihr nie irgendetwas abschlagen.
Er wollte nicht schuld sein, dass sie unglücklich ist.
Er gab sich ihr hin und sie sich ihm.
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Irgendwann später lagen sie einfach aufeinander und aneinander gekuschelt. Nähe, die ihr gut tat, die sie brauchte.
Seine Bedürfnisse stellte er zurück.
Er wusste, dass das wieder einmal nur Ablenkung war, die nicht funktionierte.
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„Liegt ’s an mir?“, wisperte er und strich ihr durch die weichen Haare.
„Wie kommst du darauf?
Aber nein, du machst alles richtig. Es ist nur einfach so, dass es sich falsch anfühlt“.
„Willst du das Ganze beenden?“
„Nein, nein. Ich weiß nur, dass das alles so nicht weitergehen kann“
„Was meinst du mit „alles“?“
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„Na ja. Es fühlt sich nicht gut an, wie es grad ist.
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Ich glaub ich mein auch die Band damit. Irgendwie … es hat sich etwas verändert und ich weiß nicht was. Nur, dass es mir verdammt Angst macht“
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Stille. Keine erdrückende Stille, keine angenehme Stille. Lediglich Stille.
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„Ich glaube, ich weiß was du meinst“
„Wirklich?“ Verwundert sah sie ihn an.
„Ja, manchmal will ich irgendwie- zurück“
„Mmh.
Auch wenn ich nicht von all dem bereue“
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„Wir müssen mit den anderen beiden reden“, warf sie einige Zeit später ein.
Noch immer lagen sie unverändert da.
Sie zeichnete Muster auf seine nackte Brust und er spielte mit ihrem schwarzgefärbten Haar.
„Wir dürfen nicht zu lang warten“.
„Nicht, dass es irgendwann zu spät ist“. Nun stand sie auf.
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„Was hast du heute noch vor?“
„Ich weiß es nicht“
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Sie hatte sich sein T-Shirt drüber gezogen und stand nun am Balkon.
Er kam von hinten und schloss sie in die Arme.
„Lass uns atmen“.
„Lass uns frei sein“.
„Lass uns genießen“.
„Lass und leben“.
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Später, am Nachmittag, saßen sie im Wohnzimmer. Er hockte über seinem Laptop und sie zupfte an der alten Gitarre von ihm.
Mit einem Mal wurde sie hellhörig.
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Regentropfen prasselten gegen die Scheibe.
Er schaute in ihre erwartungsvollen Augen.
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„Bitte, lass uns noch einmal verrückt sein. Vielleicht wird es das letzte Mal sein und wir wissen es bloß noch nicht. Bitte“
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Er stand auf und ging zur Tür.
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„Kommst du? Es war doch deine Idee. Allein mach ich das nicht“
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Sie folgte ihm.
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Im Hinterhof tanzten sie. Sie tanzen im Regen, als gebe es kein Morgen mehr.
Alles war gut. Sie wussten immer noch nichts über die Zukunft, aber es war okay.
Jedenfalls für den Moment.
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Beide schauten in den dunkelgrauen Himmel.
Kurz darauf schauten sie sich wieder an.
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„Neuanfang?“, fragte er sie
„Neuanfang.
Aber nur mit dir“, grinste sie.
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Es würde immer ein Rätsel bleiben. Aber irgendwann würde sie es herausfinden, was sich dahinter verbarg.
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Ja, irgendwann …

Silbermond OneshotsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt