Kapitel 5

107 28 76
                                    

Eine merkwürdige Atmosphäre schwebte über dem Dorf. Ich zögerte, wollte nicht wissen, was passiert war. Die Straßen waren still. Zu still. Mein Atem gefror in der Luft. Die Sonne war aufgegangen, aber der Herbst setzte sich durch.

Ich schob vorsichtig meine Kapuze zurück. Meine Finger fühlten sich gefroren an. Ich drehte mich um. Da war nichts. Ich fühlte mich beobachtet. Der Wolf war im Dorf. Ich hatte ihn gesehen. Meine Beine zitterten wieder.

Dorfbewohner standen um den Dorfplatz. Die Sonne schickte einzelne Strahlen durch den Nebel. Es war ein merkwürdiges Bild. Das ganze Dorf war versammelt, aber niemand sprach etwas. Sie drehten sich zu mir um, starrten mich mit wortlosen Blicken an. Ich ging schneller. Sie machten mir Platz und ließen mich durch. Meine Schritte auf den Pflastersteinen hallten zwischen den Häusern wider.

»Das Dorf wurde angegriffen.« Ich hörte die Worte des Bürgermeisters achtete aber nicht darauf. Mein Blick war wie festgefroren und folgte den Blicken der anderen Leute. Eine Hand drückte meinen Arm. Joy, meine beste Freundin war neben mich gekommen, aber wir wechselten keine Worte.

Die freiwilligen Rettungshelfer des Dorfes waren zurückgetreten. Der Mann war tot. Blut hatte sich um seine Schulter gesammelt und sein weißes Hemd hatte sich dunkel gefärbt. Sah aus wie in den Dokus über Bärenangriffe. Meine Hand ballte sich zu einer Faust. Die Bilder des riesigen schwarzen Wolfes, der in Richtung Dorf lief durchfluteten mich.

»Die umliegenden Dörfer wurden evakuiert, die Straßen sind gesperrt. Wir sind auf uns alleine gestellt. Kein Mensch würde sich in die Wildnis von Kanada trauen. Die Straßen lassen niemanden durch.« Der Bürgermeister machte eine Pause, nutzte die Stille aus.

Mein Blick wanderte zu Damian. Er stand neben seinem Vater, vor der großen Statue eines Kriegers, die in der Mitte des Dorfplatzes stand. Unsere Blicke begegneten sich. Seine blauen Augen schienen in mich hineinzusehen. Ich wollte mich zurückziehen, mit ihm ein paar Worte wechseln. Ich hielt es nicht aus. Das konnte nicht sein. Lange genug hatte ich das geleugnet. Es hatte so langsam angefangen. Es war doch nur ein Zufall gewesen, dass alle Dörfer im Umkreis Probleme mit Tierangriffen hatte.

»Es muss ein großes Tier gewesen sein. Auf den Fall, dass es wieder angreift müssen wir vorbereitet sein.« Die Stimme des Bürgermeisters war leise geworden, aber das ganze Dorf hörte ihn, als hätte er es mit einem Megafon verkündet.

Die Zwillinge Johanna und Anika hielten sich fest in ihren Armen. Martin war ihr Vater gewesen. Sie waren 24 und hatten bisher mit ihm gelebt und ihm bei der Arbeit geholfen. Jetzt stand in ihren Gesichtern nichts als Schmerz und Schock.

»Ich... habe es gehört. Ein Tier. Es war kein normales Tier, es war etwas Großes, Starkes.« Ich drehte mich um. Grace war mit gesenktem Blick nach vorne getreten. Ihre Stimme war leise, aber trotzdem wurde sie von allen gehört. Grace Cote war die Ortsgemeinderat Vorsitzende. Viele der Dorfbewohner fingen an Fragen auf den Platz zu werfen.

Ich biss die Zähne zusammen und trat ebenfalls vor. »Ich habe ihn gesehen. Einen Schatten, er ist zum Dorf gelaufen. Es war größer als ein Wolf... Ein Werwolf« Ich wusste nicht warum, aber ich erzählte ihnen nichts von der eisernen Kälte und den stahlblauen Augen.

»Du hast ihn gesehen? Du hast sie gesehen, weil du bei ihnen warst.« Matthew Kempson blickte sich nach Unterstützung um. »Wie können wir uns sicher sein, dass du nachts draußen warst, ohne ein Werwolf zu sein?« Ich blickte mich um und merkte, wie andere Leute sich auf seine Seite stellten.

»Wir müssend gegen die Werwölfe kämpfen. Sie werden nicht aufgeben. Das war erst der Anfang. Die Werwölfe haben einen Grund. Sie haben systematisch die Dörfer in dieser Gegend angegriffen und uns umzingelt. Sie haben etwas vor und niemand ist mehr sicher.« Aline, meine Kampfsportlehrerin blieb am Rand der Dorfbewohner stehen, aber alle hörten ihr zu. »Bald ist Vollmond, die Zeit in der die Werwölfe ihr Blut weitergeben. Die Zeit, in der sie durch einen Biss ihre Wolfsgestalt übertragen.«

»Ich glaube Lex. Sie weiß, was sie gesehen hat.« Joy stellte sich wieder neben mich. Viele Leute starrten mich und Matthew nur unsicher an. Aus den Augenwinkeln sah ich Shayna, meine Tante. Ihr Gesicht war ausdruckslos, sie wich meinem Blick aus.

»Es bringt jetzt nichts, uns gegenseitig zu beschuldigen. Wir müssen als Dorf zusammenhalten und dürfen uns nicht gegeneinander wenden. Wenn es sich um einen Werwolf handelt, ist das Dorf nicht mehr sicher. Vor niemandem. Niemand geht nachts raus. Wer nach Sonnenuntergang das Haus verlässt, ist nicht mehr sicher. Wer sich nicht an diese Regel hält, findet den Tod. Egal, ob von den Werwölfen oder für das Dorf.« Mit den düsteren Worten drehte sich der Bürgermeister um und ignorierte die protestierenden Stimmen der Dorfbewohner. Er schob sich seine Brille zurecht und ging in das Rathaus. Damian folgte ihm, warf mir aber noch einen warnenden Blick zu. Ich musste aufpassen.

Irgendwie fühlte es sich seltsam bedrückend an. Was war hier los? Die Dorfbewohner zogen sich zurück. Ich hörte die leisen Diskussionen. Ich fing einzelne Gesprächsfetzen auf.

»Ich weiß, dass du Recht hast Lex. Wir dürfen niemandem trauen und zu viel verraten.« Flüsterte Joy mir leise zu und legte kurz ihre Hand auf meine Schulter. Sie drehte sich weg und ging mit ihren Eltern Mason und Laurence. Ich zog mich vom Dorfplatz zurück. Ging in irgendeine leere Straße.

Den anderen Städten und Dörfern war unsere kleine Siedlung doch scheiß egal. Wir wurden vergessen. Niemand würde kommen und niemand würde es merken, wenn das Dorf sterben würde.

Ich kickte mit dem Fuß gegen die Hauswand eines verlassenen Hauses, als ich plötzlich eine Bewegung wahrnahm. Eine Gestalt huschte hinter die Ecke des Hauses. Ich zögerte nicht und lief mit großen Schritten hinterher.

»Wer bist du?« Ich konnte den scharfen Unterton nicht zurückhalten. Vor mir stand ein Junge, vielleicht 16 oder 17. Er hatte blonde Haare und stand leicht geduckt, bereit wegzulaufen. Aber das war es nicht, was mich erstarren ließ. Seine eisblauen Augen starrten mich, ohne zu blinzeln an.

Irgendetwas an ihm drängte mich dazu, ihm eine reinzuhauen, oder wegzulaufen. »Ich bin ein Dorfbewohner, kein Grund mich anzustarren als wäre ich ein Werwolf.« Er blickte mich kurz abwertend an. In seiner Miene lag Gleichgültigkeit. Er drehte sich weg, alle Anspannung war von ihm gefallen, als er die Straße entlang ging, bis er hinter einem Haus verschwand.

Ich atmete tief aus, während ich mich an die Wand lehnte. Was war hier los? Was war mit mir los? Der kühle Stein an meinem Rücken beruhigte mich. Aber trotzdem erdrückte mich die harte Realität fast. Die Worte von Aline hallten in meinem Kopf nach.

»Wir müssend gegen die Werwölfe kämpfen. Sie werden nicht aufgeben. Das war erst der Anfang.«

Niemand war mehr sicher. Das Dorf lag inmitten des düsteren Waldes, vergessen und allein. Die Wölfe würden kommen. Aber was war der Plan? Was wollten sie? Die kalte Angst, alleine zu sein, alleine in einem Dorf von Werwölfen und ihren Opfern, ließ Verzweiflung und Machtlosigkeit in mir aufsteigen.

Die Nacht würde kommen, die Werwölfe würden nicht aufgeben. Ich wusste, dass ich nur in der Nacht etwas herausfinden könnte, in der Verborgenheit der Schatten.

Werwölfe von DüsterwaldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt