Kapitel 4

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„Liv, warte!" Emilia schnaufte. „Nicht so schnell. Ich bin nicht so sportlich." „Ich hab mich blamiert, oder?" Meine Stimme klang leicht verzweifelt. „Nein, hast du nicht." Zweifelnd sah ich sie an. „Versprochen." „Emilia, ich dreh hier gleich durch. Was bedeutet das? Bin ich verrückt? Bilde ich mir zu viel ein?" „Liv, bleib ruhig. Ich hab keine Ahnung was das zu bedeuten hat. Aber mir kam es so vor, als hätte er schon Interesse an dir." „Wirklich?" Abrupt blieb ich stehen. Sie nickte und lächelte mich an. „Komm, denk da nicht so viel drüber nach. Du gehst jetzt nach Hause und suchst dir ein Outfit für den Sportunterricht raus, okay?" „Okay." Ich nickte. Schweigend liefen wir nebeneinander her, bis wir vor meinem Zuhause standen. „Dann bis morgen. Ich ruf dich später an, ja?" Ich nickte und umarmte sie. Da es schon dunkel war und mittlerweile angefangen hatte zu schneien, beeilte ich mich nach drinnen zu kommen. Schemenhaft sah ich das Auto meiner Mutter in der Einfahrt stehen. Da ich keine Lust hatte den Schlüssel aus meiner Tasche zu kramen, klingelte ich kurzerhand. Erst passierte nichts und ich wollte schon genervt nach dem Schlüssel suchen, doch da öffnete sich die Tür. Meine Mum stand vor mir, in der Hand ein Glas Rotwein. „Olivia.", begrüßte sie mich. Ihre Stimme klang rau und im fahlen Licht der Außenbeleuchtung erkannte ich dunkle Schatten unter ihren Augen. „Hey Mama." Sie trat zur Seite und ließ mich herein. „Wo ist Papa?", fragte ich sie. „Noch nicht Zuhause." Meine Mutter fuhr sich mit einer Hand über ihr Gesicht und lehnte sich an die Wand. Ich entledigte mich meinen Wintersachen und ging kurz auf die Toilette. „Und wie war dein erster Schultag?", fragte sie mich, als ich in die Küche kam. „Ganz okay. Nichts besonderes." Sie nickte nur. Unsere Gespräche gingen schon seit Jahren nie über Smalltalk hinaus. „Möchtest du was?" Sie deutete auf die Weinflasche, doch ich schüttelte den Kopf. Ich machte mir Sorgen um sie. Sie schien überarbeitet und hatte definitiv zu viel Stress, doch sie stritt es ständig ab mit dem Argument, dass sie als Krankenschwester nunmal viel zu tun hatte. Ich wusste, dass das nicht ihr größtes Problem war. „Wie war es auf der Arbeit?" „Gut.", erwiderte sie nur. „Aha." Ich lehnte mich gegen den Tresen. Die unangenehme Stille zwischen uns war unerträglich laut, weshalb ich kurzerhand das Radio einschaltete und mich auf einem der Barhocker niederließ. „Wie geht es Amanda?" „Gut." „Schön." Meine Mutter nahm die Weinflasche und schüttete die verbliebene rote Flüssigkeit in ihr Glas. In einem Zug leerte sie es schließlich. Nach zehn weiteren Minuten hörten wir, wie sich die Haustür öffnete. Mein Vater war Zuhause. Angespannt richtete ich mich auf. „Wie wärs, wenn du ins Bett gehts? Du solltest dich ausruhen.", schlug ich ihr vor. „Schon okay, Liv.", meinte sie nur. „Was ist denn hier schon wieder los?" Mein Vater stand in der Tür. „Katrin, wie oft habe ich schon gesagt, dass du nicht trinken sollst." „Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du mal früher nach Hause kommen sollst.", konterte sie. Bevor es wieder eskalieren konnte, packte ich meine Mutter am Arm. „Komm, wir gehen jetzt schlafen." Bestimmend zog ich sie hinter mir her die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. „Liv, las mich das mit deinem Vater klären." „Nein Mama, du legst dich jetzt hin und ich mache Abendessen." Ohne auf ihre schwachen Gegenargumente zu hören, ging ich zurück in die Küche. „Olivia.", begrüßte mein Vater mich. „Wie war die Schule?" „Gut. Wie war die Arbeit?" Er winkte ab. „Unwichtig." Er ließ sich auf dem selben Barhocker nieder, auf dem ich gerade noch gesessen hatte und beobachtete mich dabei wie ich anfing das Abendessen zuzubereiten. Das Radio spielte gerade Have a nice Day von Bon Jovi und ich summte leise mit. „Ich hab doch gesagt, du sollst aufpassen, dass deine Mutter nicht so viel trinkt." Tief atmete ich durch. „Das ist nicht mein Aufgabengebiet.", erwiderte ich ruhig. Ich wusste, dass mein Vater gerade den Kopf schüttelte. Schweigend beobachtete ich das Gemüse, welches in der Pfanne kochte und suchte nach den Gewürzen im Schrank. Ein paar Minuten später war das Essen fertig und ich verteilte es auf drei Teller. Den ersten stellte ich vor meinem Vater auf den Tresen, die anderen zwei nahm ich mit nach oben. Im Schlafzimmer war es dunkel und die gleichmäßige Atemzüge meiner Mutter verrieten mir, dass sie schon schlief. Seufzend stellte ich den Teller mit dem gebratenen Gemüse auf ihren Nachttisch und machte mich dann auf den Weg in mein Zimmer. Ich hockte mich auf mein Bett und suchte meine Fernbedienung, um Netflix zu starten. Nebenbei schrieb ich Emilia, dass wir heute nicht mehr telefonieren würden, da ich meine Mutter nicht aufwecken wollte. Es war zwar eher unwahrscheinlich, aber zugegebener Maßen hatte ich auch keinen Nerv mehr für ein langes Telefonat, außerdem war ich müde und musste noch meine Sportsachen für morgen suchen. Während im Hintergrund meine Lieblingsserie Élite lief, suchte ich in meinem Kleiderschrank nach meiner langen Sporthose und einem einfachen Oversize T-Shirt. Ich hatte beschlossen mich nicht extra für Herr Russo schön anzuziehen, schließlich war es nur Sport. Außerdem würde ich ihn ja dann auch noch in Englisch sehen. Ich entschied mich für einen schwarz weiß karierten, engen Rock und einen grauen Rollkragenpullover. Dazu würde ich meinen langen dunklen Wollmantel und bequeme Stiefeletten tragen. Schmuck würde ich mir morgen raussuchen. Während ich aß, beschloss ich nicht mehr zu duschen, da ich morgen sowieso gehen würde und als es halb elf war beschloss ich mich langsam hinzulegen. Ich schrieb noch kurz mit Paul, der mir erzählte, dass er aus Versehen mein Ethikbuch eingepackt hatte und sagte Emilia Gute Nacht, die aber bestimmt schon schlief. Gegen 23 Uhr schlief ich dann schließlich mit dem Gedanken an Herr Russo ein.

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