Paprika, Gedichte und Zuhause

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a/n: vielleicht 'ne ganz ganz kleine triggerwarnung
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october caldwell.

Meinen ersten Brief bekomme ich noch am gleichen Tag. Beziehungsweise finde ihn.
Ich bin seit langem mal wieder unter der Woche bei meinem Vater. In seiner kleinen Wohnung am Ende der Stadt.

Ich weiß nicht warum, aber irgendwie habe ich meine Ängste überwunden, mein Fahrrad geschnappt und bin endlich mal zu ihm gefahren.
Er war wahrscheinlich ebenso überrascht wie ich, als ich vom Regen durchnässt vor seiner Tür stand und ihn schüchtern anlächle.
Hauptsächlich will ich einfach nur mein schlechtes Gewissen loswerden, weil ich am Wochenende nicht zu ihm komme.

Zuerst sprachlos, doch danach nur so vor erfreuten Begrüßungen und Smalltalk-Floskeln überzulaufen, zieht er mich in eine Umarmung.

"Oh man, ich hab dich so vermisst, October!", meint er und will mich lange Zeit nicht loslassen.

Ich will ihm sagen, dass es gar nicht so lange her ist, dass ich bei ihm war, doch lasse es.



Jetzt sitze ich in seiner warmen Küche und bin verwirrt, als der Brief mir zwischen den dicken und vollkommen unnötigen Büchern, die ich in der Bib ausgeliehen habe, herausrutscht.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen hebt mein Vater ihn auf, gerade als er den Raum betritt und in sein Hähnchen-Tomaten-Sandwich beißt.

"Ist für dich", meint er nach einem haschen Blick auf den Umschlag. Er schlurft in seinen braunen Winterpantoffeln zu mir herüber und legt den Brief vor mir auf dem Tisch ab.

Mein Name steht darauf. Auf dem Kuvert.

Ich öffne den Umschlag nicht. Ich glaube, das will ich lieber machen, wenn ich allein bin. Wenn mein Vater nicht dabei ist.
Schnell stecke ich ihn also wieder weg, in meinen Rucksack.

"Wie läuft die Schule?", fragt mein Dad, während er eine Paprika in kleine Würfel schneidet.

Das macht er immer.
Dinge nebenbei machen. Während des Sprechens.
Nicht Paprika schneiden.

"Gut", antworte ich, "Wie läuft die Arbeit?"

"Gut" Dann fängt er an zu summen. Irgendein Lied. Er wird mir wahrscheinlich eh nicht erklären können welches. Er kann sich Texte so schlecht merken. Und Titel schon gleich gar nicht.
Ich frage also nicht nach.

"Gut..."

Und schon wieder steige ich aus dem Gespräch aus. Mein Kopf, schon lange bei einem meiner angefangenen Gedichte.
Hektisch krame ich in dem schwarzen Rucksack neben mir nach einem Stift und meinem Notizbuch.

Ich blättere die Seiten hin und her, suche die ersten Verse und gehe sie in Gedanken schon wieder durch. Ich weiß jetzt endlich wie ich weiter schreiben soll.

Meine Augen fliegen über die unordentlich gekritzelten Zeilen und formen gleich danach schon neue Sätze.

liebe.
ein viel zu kompliziertes wort.
zu viele fragen.
zu wenig antworten.
zu viele lücken
was ist liebe?

Eine Weile starre ich auf das unvollendete Gedicht. Meine Gedanken driften ab und plötzlich reihen sich die Wörter wie automatisch aneinander.
Mein Bleistift schreibt besser, als je zuvor und ich merke, wie sich Wärme in meiner Brust verbreitet.

liebe ist zuhause.
aber,
was ist zuhause?
wo ist zuhause?
wann ist zuhause?

SALTY TEARSWo Geschichten leben. Entdecke jetzt