Adhäsion und Katalysator

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Einatmen. Ausatmen.

Das war alles. Alles, was ich für mein Leben je getan hatte und alles, was ich tun musste, damit es irgendwie weiter ging. Atmen und das schlechte Gefühl, welches wie eine Warnsirene immer wieder lauter und leiser meine Gedanken über den Haufen warf, ignorieren. Dass ich beschissene Freunde hatte, lag an mir. Ich war ein beschissener Freund. Das war mir vor zwei Tagen klar geworden. Seitdem sitze ich hier und starre auf Kookies winzigen Fernseher. Er hatte mich angerufen und gefragt, ob ich für ein paar Tage rumkommen wollte. Er hatte mir immer noch nicht gesagt, was passiert war, aber irgendetwas ist passiert, denn ich war schon zwei Tage hier und er auffällig still. Ich hätte ihn vielleicht fragen sollen, doch in dem Moment ging mir nur ein Gedanke durch den Kopf: Eine Wohnung.

Wir hatten uns die letzten zwei Monate öfter getroffen und viel über damals geredet. Eigentlich haben wir über nichts anderes geredet. Was wir geworden sind, was passiert ist während wir uns nicht gesehen hatten, blieb unausgesprochen. Trotzdem musste ich meinen Eindruck von ihm komplett ändern. Er ist einer dieser Menschen, die wirken, als wären sie Mitglied einer Biker Gang, bis man ihn ansprach oder er lächelte. Es war perfekt so, manchmal fast wie früher, wenn Kookie die Oliven von seiner Pizza pulte und ungefragt auf meine warf, obwohl er derjenige ist, dem nicht schlecht von den Dingern wurde. Aber wie immer holte einen die Realität irgendwann ein. Und man musste eine Entscheidung treffen. Meine war definitiv irgendwie richtig arschig gewesen, aber jetzt saß ich hier.

Ich hatte seit zwei Tagen nicht den Mut mit ihm zu reden. Er wäre garantiert wütend. Sein Temperament hatte sich in den Jahren nie abgekühlt, er kontrolliert es jetzt nur viel besser. Jungkook hatte überhaupt alles viel besser unter Kontrolle, das sah man ihm auch an, wenn man nicht den ganzen Tag bei ihm rumhängt. Er frustrierte mich so sehr, wie ich froh war ihn wiederzuhaben. Er hat Arbeit, feiert nicht, wenn er den nächsten Tag früh rausmuss, seine Freunde sind keine kompletten Arschlöcher und er ist keine Enttäuschung für seine Eltern. Wann in all den Jahren hatte er mich so überholt? Ich hatte mir eingeredet, er lässt sich genau so gehen wie ich, aber anscheinend bin ich der Einzige, den das Leben nicht abholen will. Bin ich zu selbstsüchtig? Sicher ist es das. Wenigstens machte ich mir selbst nichts vor, darin war ich gut. Das Leben ist einfach nichts für mich, allein anderen dabei zuzusehen ist deprimierend.

"Tae!", wurde ich plötzlich halb angeschrien. Mein ganzer Körper zuckte zusammen und mein Kopf drehte sich schneller um als ich denken konnte. Jungkook musterte mich irritiert. "Was?", fragte ich noch etwas neben der Spur, denn er schien schon länger dort zu stehen und mit mir zu reden. Er schnaubte einmal und setzte sich dann zu mir auf die kleine Couch. Sein Blick verriet sofort, dass er etwas bemerkt hatte. Eine Weile starrten wir uns einfach nur an. Er dachte über irgendetwas nach und ich versuchte mir gerade eine Ausrede einfallen zu lassen, wofür auch immer. "Ich hab gefragt, ob du einkaufen warst", meinte er dann nur und machte den Fernseher an. "Fuck", wie lange war ich in Gedanken versunken? Mir dämmerte erst jetzt, dass es ziemlich spät sein musste, wenn Kookie schon zurück war. Er ging nach der Arbeit immer noch irgendwo hin und war dann meistens einfach müde.

"Wir gehen morgen", tat er es ab und schloss kurz die Augen. Was auch immer es ist, es lastet schwer auf ihm. Und dass ich zögerte diese Büchse der Pandora zu öffnen aus Angst, dass ich dann selbst reden müsste, ist selbst für mich eine Spur zu erbärmlich. Er war mir so wichtig, ich war froh, dass er hier war und ich bei ihm sein konnte. Ich hatte selten etwas so genossen wie seine Anwesenheit. Er war seltsam beruhigend, wie ein sicherer Hafen. Egal wann oder warum man konnte immer zu ihm kommen und er stellte keine Fragen. Doch jetzt, in diesem Moment, wie er dort saß, die Augen geschlossen, den Kopf nach hinten gelehnt, den Körper entspannt, konnte ich das Chaos in ihm sehen. Es war genau das, was ich ständig in Alkohol ertränke. Tiefes, undefiniertes, tobendes Chaos. Ich nahm ihm vorsichtig die Fernbedienung ab und setzte dem faden Fernsehprogramm wieder ein Ende.

"Kooks", es klang genau so wie ein Satzanfang klingt, wenn sich zwei verschlossene Leute etwas verschweigen und es jetzt ausgesprochen werden musste. Hier ging es nicht um mich und mein erbärmliches Selbstmitleid. Er reagierte nicht, doch ich war mir sicher er hörte zu, er hatte einfach nicht die Kraft zu reagieren. Dass wir hier auf diesem Zweisitzer nebeneinander saßen, bedeutete wir brauchen beide diese Nähe. Ein Boot, das wir uns teilten, um nicht durchzudrehen und wieder in dieser Ausnüchterungszelle zu landen. Tatsächlich hielt die Tatsache, dass er sich Sorgen machte und mich im Blick behielt, damit ich nicht verloren ging und ich aufpasste, dass er keinen Streit anfing, uns beide davon ab zu viel zu trinken. Wir passten aufeinander auf, als hätten wir nie damit aufgehört.

"Ich hab keine Wohnung mehr", sagte ich.
"Mein Vater ist tot", sagte er.

Stille.

"Sie haben mir den Geldhahn zugedreht und den Kontakt abgebrochen, weil ich so eine Enttäuschung bin", es war ein Tauschgeschäft so banal meine Seite plötzlich auch war.
"Er hatte Krebs, Mom war damit überfordert, deshalb der Stress zu Hause", gab er zu und klang unfassbar müde.

Das hatte ich nie gewusst. Er hatte es nie erzählt, aber es ergab Sinn. Weshalb ich ihn kaum besuchen durfte, warum seine Eltern sich gestritten hatten, wenn wir dann doch manchmal da waren. Wieso er sie trotzdem immer verteidigte, wenn jemand schlecht über sie sprach. Überhaupt alles. Ich wusste, wieso er es niemandem erzählt hatte, es war einfach dieses Gefühl. Er hatte Jahre Zeit sich damit abzufinden und sich nicht auch noch mit Blicken und Samthandschuhen rumschlagen zu müssen war sicher hilfreich. Ein bisschen Normalität. Mitleid hatte Jungkook schon immer gestresst. Er ist kein Typ für Umarmungen oder tröstende Worte. Auch nicht jetzt, wo stumme Tränen anfingen aus den noch immer geschlossenen Augen über seine Wangen zu laufen.

Er bewegte sich nicht. Nichtmal als ihm eine Träne fast ins Ohr lief. Er saß einfach da, den Kopf nach hinten auf die Rückenlehne gelegt und weinte. Mann konnte es fast nicht weinen nennen, er schluchzte nicht und schien nicht in tiefster Trauer zu stehen, den Punkt hatte er in den letzten Jahren sicher schon zum größten Teil überwunden. Was ihm die Tränen über die Wange trieb, war Schmerz, den er zurückgehalten hatte, bis es vorbei war. Jungkook war im Gegensatz zu mir überhaupt nicht selbstsüchtig. Er hatte viele Jahre gekämpft und der Kampf war jetzt vorbei. Ich hätte ihn viel früher treffen müssen, hätte wirklich versuchen sollen ihn zu finden. Die Sorgen, Gedanken und Vorwürfe, die ich mir gemacht hatte, hatten plötzlich eine Berechtigung. Es war absurd, ich wusste es bis eben nicht einmal, obwohl es sich anfühlte, als wüsste ich es schon immer.

Ich ließ mich einfach zur Seite kippen und legte meinen Kopf auf seiner Schulter ab. Mehr brauchte es auch nicht um füreinander da zu sein. Nicht bei uns. Wir hingen gemeinsam jeder unserem eigenen Scheiß nach. Irgendwann setzte Jungkook sich auf, machte sich eine Zigarette an, zog einmal dran und reichte sie mir rüber. Ich nahm sie und als ich sie einen kurzen Atemzug später zurückreichen wollte, lehnte er mit einem knappen Nicken ab. Stattdessen wischte er sich die Tränen von den Wangen und schien irgendeinen Gedanken gefasst zu haben.

"Tae...bleib hier", fing er schließlich an und schien noch halb in Gedanken. Ich nickte stumm. Sicher würde ich hier bleiben so lange er mich brauchte. Keine Sekunde länger schließlich lag ich ihm bald auf der Tasche. Viel Erspartes hatte ich nicht mehr.

"Das Leben wartet nicht und man bereut nur was man nie getan hat. Wir suchen dir nen Job und dann ziehen wir in eine größere Wohnung", fügte er hinzu und erwiderte meinen überraschten Blick mit einem unausgesprochenem Geständnis.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Apr 16, 2021 ⏰

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