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Sport, Englisch und Geografie. Das sind die Fächer, die Finn Campbell in der Oberstufe unterrichtet. Ausschließlich in der Oberstufe, weil er mit Kindern oder Heranwachsenden, die dem vollen Ausmaß ihrer Hormonschübe hilflos ausgeliefert sind, nichts anfangen kann. Außerdem bietet er einmal in der Woche Nachhilfe in seinen Fächern an, leitet ein freiwilliges Kursangebot für Darstellendes Spiel und ist darüberhinaus Coach der Basketballmannschaft.

Ich möchte sterben. Oder ins Koma fallen. Wieder. Oder in meinen alten Körper zurück. Auch wieder. Es hätte nur noch schlimmer sein können, wenn er auch noch Spanisch oder Suaheli unterrichten würde. Oder Mathematik.

Ich habe absolut keine Ahnung, wie ich das schaffen soll. Sport bekomme ich noch hin, es kann kaum besonders schwierig sein, Teenager zur Bewegung anzuscheuchen. Englisch? Da könnte ich sie Bücher lesen lassen. Allerdings müsste ich die dann selbst lesen und ach.. ich hasse lesen! Aber mit etwas Anstrengung bekomme ich auch das hin.

Geografie? Oh Gott, da schwant mir das Schlimmste! Ich bin ohnehin nicht besonders mit Orientierung gesegnet und war noch nie außerhalb der USA. Ich wusste nicht mal von diesen Osterinseln, auf denen Finns und Kilians Eltern umgekommen sind und jetzt soll ich junge Menschen in sowas unterrichten?

Um mich abzulenken, hole ich mir Finns Tablet und beginne, im Internet weiter nach Hinweisen über die Opfer des Zugunglücks zu suchen. Ein Zeitungsartikel verrät mir, dass zwei Männer noch immer im Koma liegen, einer von denen weiterhin ohne Identität, ein weiterer ist seinen Verletzungen erlegen.
Könnte einer der beiden mein Körper sein?

Nach wie vor kann ich die Vorstellung daran, mich selbst tot zu sehen, nicht ertragen und darum konzentriere ich mich auf den Komapatienten ohne Identität. Mit zittrigen Fingern wähle ich die Nummer der Zeitung und werde nach kurzem Warten freundlich am Telefon begrüßt: „Der Providence Telegraph, mein Name ist Hillary Fricks, was darf ich für Sie tun?"

„Äh.. hi", stammele ich. „Mein Name ist Cal- Finn Campbell und ich wollte fragen, ob Sie Informationen über den Mann ohne Identität haben von dem Zugunglück zwischen Boston und Providence."
„Darf ich fragen, warum Sie das wissen wollen?", kommt sofort zurück und ich stocke kurz.
„Mein Cousin saß eventuell in dem Zug und ich habe seitdem nichts von ihm gehört", lüge ich schließlich.
„Haben Sie versucht, ihn anzurufen?"
„Nein, ich sitze lieber herum und rufe Zeitungen an", schnauze ich.

„Bitte entschuldigen Sie, Mr. Campbell", sagt Miss Fricks. „Wir bekommen nur viele solcher Anrufe und ich muss zumindest nachfragen."
„Können Sie mir jetzt helfen?", meckere ich und frage mich, ob ich allmählich über eine Hollywoodkarriere nachdenken sollte, so gut wie ich den besorgten Cousin spiele. „Ich bin nur wirklich.. wirklich in Sorge", füge ich hinzu.
„Ist Ihr Cousin älter oder jünger als fünfzig?", erkundigt sich die junge Frau und ich runzele die Stirn.
„Jünger."

„Dann war er zumindest nicht derjenige, der gestern verstorben ist", flüstert die junge Frau und mich durchströmt eine Welle der Erleichterung.
„O-Okay", stammele ich. „D-Danke."
„Der andere liegt im Boston Medical Center. Mehr Informationen habe ich leider nicht, Mr. Campbell."
„Vielen Dank, Hillary", murmele ich und lege auf, ohne ihre Antwort abzuwarten.

Ich werde wohl nochmal Auto fahren müssen, denke ich bei mir.

•••

Mit einem Auto, das die Geschwindigkeit selbstständig so einstellt, wie es gefordert ist und einem integrierten Navigationssystem, welches automatisch die optimale Route berechnet, ist die Fahrt nach Boston gar nicht so beängstigend.

Bevor ich losgefahren bin, habe ich im Boston Medical Center angerufen und meine Ich-suche-meinen-Cousin-Ausrede erneut verwendet. Der Mann am Telefon war sehr freundlich und antwortete, dass es durchaus möglich wäre, dass es sich bei dem noch immer im Koma liegenden Patienten um meinen Cousin handelt. Er ist etwa Mitte zwanzig, hat schwarze Haare und ist ungefähr 1.85m groß.

All diese Kennzeichen teilte ich dem Mann am Telefon mit und er bot an, dass ich vorbeikommen und den Patienten ansehen dürfte, in der Hoffnung, nun endlich einen seiner Angehörigen gefunden zu haben.

Während der Fahrt grübele ich, was ich wohl tun werde, wenn es tatsächlich mein Körper sein sollte, der dort liegt. Wird mein Geist sofort wieder dorthin zurückgehen? Was passiert dann mit Finns Körper? Fällt er einfach um? Wie erkläre ich das dann wiederum? Ich weiß noch immer nicht, wo sich Finns Geist befindet. Und was, wenn Finns Geist in meinem Caleb-Körper ist und dann aufwacht, wenn ich dort bin? Erkläre ich es ihm?

‚Hey Finn, du bist jetzt ich und ich bin du. Ich habe keine Ahnung, wie das passieren konnte, aber dein Leben ist der Hammer', halte ich irgendwie nicht für den optimalen Einstieg zum Kennenlernen.

Ich schätze, ich werde das Ganze auf die Caleb-Weise angehen: einfach abwarten, was passiert.

•••

Nach etwa einer Stunde erreiche ich das Krankenhaus und betrete mit einem mulmigen Gefühl im Bauch den Eingangsbereich. Ein Mann hinter der Anmeldung lächelt mich freundlich an und ich gehe zögerlich auf ihn zu.
„Hi", beginne ich. „Ich hatte angerufen, ich bin auf der Suche nach meinem Cousin und-"
„Ach ja, Mr. Campbell, richtig?", fällt er mir lächelnd ins Wort. „Dritte Etage, dort hinten rechts ist der Fahrstuhl. Melden Sie sich bitte bei Melina, sie weiß Bescheid und wird Sie zum Patienten bringen."
„D-Danke."

Verdutzt und fast schon überfordert gehe ich zu den ausgewiesenen Fahrstühlen und erreiche innerhalb kürzester Zeit den dritten Stock. Meine teuren Sneaker quietschen auf dem Linoleumboden, bis ich vor einer Glastür mit der Überschrift ‚Intensivstation' halte und die Klingel betätige.

Es dauert einen Moment, bis eine junge Frau den Gang hinter der Glastür entlangkommt und mir diese öffnet.
„Hallo", begrüße ich sie. „Ich soll nach Melina fragen, ich bin auf der Suche nach meinem Cousin."
„Ach ja", lächelt sie und bedeutet mir, hereinzukommen. „Ich bin Melina. John liegt in Zimmer vier. Folgen Sie mir bitte."
„John?", frage ich verdutzt.

„Wir nennen alle Patienten ohne Identität John", erklärt sie, während wir den Gang entlanggehen. „Also, alle männlichen Patienten. Die Frauen nennen wir Jane."
Ich lächele schief, denn sie kichert ebenfalls.
„Ich darf Sie nur durch das Fenster zum Patienten sehen lassen und Ihnen nur die medizinischen Umstände erklären, wenn Sie bestätigen können, dass Sie den Patienten kennen."
„Okay", erwidere ich und schlucke schwer, als wir vor einer Scheibe zum Stehen kommen.

Ich blicke hindurch und erkenne ein Krankenhausbett mit vielen Gerätschaften drum herum, ähnlich dem, in dem ich vor einiger Zeit erwachte. In dem Bett liegt der Körper eines Mannes und mir stockt für einen Moment der Atem. Er liegt auf dem Rücken, seine Hände auf der Bettdecke neben seinen Hüften abgelegt. Man kann sein Gesicht zwischen den Schläuchen nur schwer erkennen, doch ich weiß sofort: Dieser Mann ist nicht Caleb Martínez.

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