12. Ein nasses Grab

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Als Remus merkte, dass Sirius ihm nicht mehr antworten würde, erhob er sich, verharrte noch einen kurzen Moment in dieser Position und lief langsam wieder zurück zum Schloss. Kurz danach stand auch Sirius auf und taumelte voller Trauer nach vorne. Aber nicht in Richtung Hogwarts, sondern zum Steg. Er musste hier weg. Sein neuer Lieblingsplatz sollte ihm Trost schenken.
'Warum war er heute so verweichlicht?', fragte er sich, 'Warum war er so weinerlich?' Sirius Black weinte nicht! Er riss Witze und machte sich über Gefühle keine Gedanken! ... Aber ein unglücklich verliebter Sirius war wohl nicht so. Ihm war nicht danach Scherze zu machen, Streiche zu spielen, mit Mädchen zu flirten.

Er trottete weiter und lief über die morschen Planken, die unter seinem Gewicht knarzten. Durch ein paar breite Ritzen konnte man das dunkle Wasser erspähen, das ruhig unter den Holzbrettern hindurchfloss. Schritt für Schritt lief er die feuchte Anlegestelle entlang, grüne Wasserpflanzen an jeder Seite. Er trat noch weiter nach vorne, bis er am Ende des Steges stand und seine Spiegelung im Großen See betrachten konnte. Ein hochgewachsener Junge mit schlanker Statur und langen schwarzen Haaren blickte zurück. Tief und dunkel lag der See vor ihm und verbarg Ungewisses. Kaum zu erkennen und nur als Schatten zogen kleine Pufferfische in dem Gewässer ihre Bahnen.

Remus bereute den Kuss. Er hatte gesagt, dass er ihn zurücknehmen wollte. - Bestimmt ekelte er sich nun. Schließlich hatte Moony einen Jungen geküsst. Ihn. War das denn normal? Nicht bei einem besten Freund. Traurig sah der Gryffindor wieder auf das schimmernde Wasser. Die Sonne schien noch leicht und ein leicht algenartiger Geruch stieg dem Jungen in die Nase. Er drehte seinem Spiegelbild den Rücken zu und blickte auf das Schloss, das sich in einiger Entfernung vor ihm erhob, und auf Remus, der nur noch als Fleck in der Landschaft zu sehen war. Sein Herz zog sich zusammen und er spürte die Kante des Stegs, die gegen seine Fußsohlen drückte. Er stand auf der Kippe.

Bedrückt schloss er die Augen, um die ganzen Geschehnisse zu verarbeiten und etwas nachzudenken. Er atmete tief die frische Luft. Was würde er heute noch tun? Wie würde er in Zukunft weiter vorgehen? Abwägend wippte etwas auf der Kante vor- und zurück und lauschte dem Rascheln der Bäume. Mit geschlossenen Augen war sein Hörsinn viel ausgeprägter und er schenkte den Geräuschen seine volle Aufmerksamkeit.
Dann begann er leicht zu schwanken, bis er durch das blinde Wippen immer mehr nach hinten kippte. Er versuchte sich auf einem Bein auszublancieren, doch er stolperte und ein kleiner Windhauch in seine Richtung gab ihm den Rest. Als hätte jemand ein gespanntes Seil gekappt, verlor Sirius ruckartig sein Gleichgewicht und er fiel nach hinten. Erschrocken riss er seine Augen auf.

Dann verlief alles wie in Zeitlupe. Er glaubte noch aus dem Augenwinkel zu sehen, wie Remus ruckartig seinen Kopf zu ihm drehte und etwas rief.

Er verstand es nicht.

Durch den Schwung wehten seine Haare nach oben und er sah kleine Wolken am Himmel über ihm. Seine schwarzen Turnschuhe verloren ihren festen Halt auf den Brettern und er spürte eine angenehme Schwerelosigkeit, als er fiel. Wind rauschte an seinen Ohren vorbei und seine Hände griffen nach vorne. Sie griffen nach etwas zum Festhalten, doch da war nichts. Nur Luft.

Sie fassten ins Leere.

Seine Augen weiteten sich, als er seine Lage vollends begriff, und eine Hilflosigkeit überrollte ihn. Er trat mit den Beinen aus und ruderte mit den Armen, doch er fiel weiter und alles verlief wieder in normalem Tempo.

Das eiskalte Wasser schlug über ihm zusammen, die mörderische Kälte brannte schmerzhaft auf seiner Haut, fraß sich in jede seiner Zellen und seine Muskeln versteiften sich. Nässe tränkte seine Haare und trat in seine Augen. Seine Kleider sogen sich sofort mit Wasser voll und zogen ihn mit einer erschreckenden Geschwindigkeit wie Bleigewichte in die Tiefe. Das Wasser schimmerte leicht grünlich, als er sank und er sah das spärliche Licht, das durch die Wasseroberfläche zu ihm hindurchdrang. Glitschiges Seegras streifte seine rechte Hand und es wurde immer dunkler und kälter. Verschwommen sah er das Graublau des Himmels über ihm, Schlammschlieren zogen an seiner Sicht vorbei. In seiner Panik versuchte er Luft zu holen, doch es strömte nur Wasser in seinen Mundraum und hinterließ einen modrigen Geschmack auf seiner Zunge. Etwas Wasser gelang in seinen Rachen und Sirius verschluckte sich. Er versuchte zu husten, doch es stiegen nur kleine Luftblasen vor seinen Augen auf - und mit ihnen kostbare Luft, die ihm nun fehlte.

Sein Atem stockte.

Todesangst eroberte seine Gedanken und er wollte schreien, wollte hier weg. Sein gesamter Körper spannte sich an und Adrenalin jagte durch seine Venen. Hektisch wollte er sich bewegen, doch ein schrecklich beklemmendes Gefühl umgab seinen Brustkorb und seinen Hals, als ob Seile um diese gelegt worden wären und nun immer mehr festgezurrt wurden. Gequält versuchte er weiter zu atmen, doch es funktionierte nicht; seine Atemwege wurden durch das Wasser blockiert. Seine Lunge brannte höllisch und schrie nach Luft, sein Kopf pochte schmerzhaft und durch den Sauerstoffmangel wurde ihm schwindelig. Seine Sicht verschwamm für kurze Zeit. Er streckte seine Hände hilfesuchend nach oben, Wasser glitt durch seine gespreizten Finger und er sank mit dem Rücken zum Seeboden immer weiter in Richtung Grund. Salzige Tränen mischten sich unter das Wasser und ein Wimmern entfuhr ihm, das langsam als eine weitere stumme Luftblase nach oben stieg. Er fror und seine Glieder schmerzten, denn die Kälte ging ihm durch Mark und Bein. Ihm wurde erneut schwummrig vor Augen, immer mehr schwarze Flecken tauchten auf und sein Sichtfeld wurde langsam kleiner. Das Seewasser brannte in seinen Augen und er versuchte zu blinzeln.

Dann erfasste ihn eine ungewohntes Gleichgültigkeit. Träge betrachtete er seine Arme und Beine, die nach oben getrieben wurden, spürte das schwere Gewicht, das ihn weiter nach unten zog. Der Schock ließ seine Überlebensinstinkte nicht arbeiten. Ohne sich zu wehren, zu schwimmen oder sich anderweitig zu retten, ging er wie ein Sandsack unter und der Ausschnitt des Tageslichtes an der Oberfläche, das Glitzern des Wassers, entfernte sich immer und immer mehr, bis es nur noch ein kleiner heller Punkt in der Ferne und dann endgültig verschwunden war. Die Stille drücke dumpf auf seine Ohren, denn dort unten, in der Tiefe des Sees, war nichts. Eine beklemmende Dunkelheit umschloss ihn, die Kälte war grausam und stach wie kleine Nadeln in seine Haut - betäubte ihn. Seine Lunge krampfte sich zusammen und versuchte wieder verzweifelt Sauerstoff zu erlangen. Wie zum Teufel war er überhaupt in diese Situation gekommen? Seine Augenlider flackerten und und er schwankte zwischen Bewusstsein und Ohnmacht. Er sah sich langsam um, fühlte sich unglaublich einsam in dieser Finsternis. Würde er nun nicht ertrinken, würde er erfrieren. Was seine Freunde wohl denken würden? - Was würde Remus denken?

Und ihm wurde endgültig klar, was er wollte. Er wollte nicht sterben; er wollte etwas, was er nie bekommen würde - etwas Unmögliches.
Er wollte einen Jungen. Seinen besten Freund.

Er wollte Remus.

Schließlich sackte er zusammen und sein Kopf schaltete ab.

Dann wurde endgültig alles schwarz.

Survive - WolfstarWo Geschichten leben. Entdecke jetzt