YUBIN SAß GEBEUGT über einem alten Buch. Es war nicht sehr dick und auch nicht sehr hübsch, aber sie sah es an, als wäre es ihre größte Hoffnung.
Wie sie vorsichtig über das geschundene Ledereinband striff, wie sie die Kladde voller Stolz anblickt, wie sie es aufschlug und den Geruch der leicht vergilbten Seiten einzog. Es war wirklich zu lachhaft.
Ich hatte das Buch oft gesehen. Ein kleines, altes, braunes, unscheinbares Büchlein. Keines von denen, die man wirklich aus dem Regal nehmen würde um darin zu lesen. Und außer Yubin tat das auch niemand.
Yubin hatte ein ungemeines Interesse an Büchern. Unendlich lange Zeit konnte sie in der Bibliothek damit zubringen, einfach nur die Bücher anzuschauen. Sie laß sie nicht einmal, sie starrte sie an. Viele Stunden lang, unbeweglich, so als würden sie ihr Geschichten zuflüstern, Geschichten, die alle anderen niemals zu hören bekommen würden, Geschichten, die so wundervoll waren, dass man sie gar nicht mit Worten erfassen konnte. Faszinierende, von denen man sich nicht losreißen konnte, die man so oft las, bis man schon den genauen Wortlaut kannte.
Manchmal, da las Yubin vor. Es waren die Abende, an denen fast alle Mädchen friedlich zusammensaßen und das Ende des Tages genossen. Abende, an denen sich niemand stritt und niemandem das Essen gestohlen wurde.
Yubins Vorlesungen waren magisch. Ihre Worte bauten Bilder, erschufen lebendige Figuren, schalteten den Verstand aus und überließen die Gedanken der endlosen Fantasie. Ganze Welten konnte sie zum Leben erwecken, Monster herbeirufen und bezwingen, etliche Dinge jenseits aller Vorstellungskraft erschaffen.
Sie sagte es seien die Wörter. Sie würde spüren, ob es richtig wäre. Alle anderen sagten ihr, es sei ihre Stimme. Aber was es auch war, es war wundervoll und schrecklich zugleich.
Aus einer ihrer Geschichten aufzuwachen war ein unangenehmes Gefühl. Man blendete die Realität aus, rettete Welten, besegelte die Meere und erforschte fremde Kontinente –doch immer, kurz vor dem Ende, da hörte sie auf zu lesen, und die schreckliche Realität holte einen wieder ein.
Es war wie aus einem Traum zu erwachen und die Decke zurückzuschlagen. Die eiserne Kälte holte einen unwiderruflich ein, ließ eine Gänsehaut entstehen, ließ einen erzittern.
In ihre Erzählungen einzutauchen war, als ob man mit offenen Armen in die Falle laufen würde. Es war gefährlich –und doch konnte niemand widerstehen. Auch ich war immer wieder in den Bann ihrer Erzählungen gezogen worden. Denn man konnte sich nicht dagegen wehren.
Wenn sie nicht stoppen würde, da waren die Kinder sich sicher, konnte man bestimmt allein durch ihre Worte in dieses Buch eintauchen. Niemand wusste, warum Yubin ihre Geschichten nicht zu Ende las.
Es war Angst. Ich hatte es –wie immer– durch Zufall herausgefunden. Ich hatte Kang Seulgi beobachtet, heimlich und leise, und da war mir Yubin über den Weg gelaufen.
Und ich wusste nun, warum sie nie eine Geschichte zu Ende las.
Es passierte wirklich etwas. Niemand verschwand und auch niemand tauchte auf, nein. Es war bloß das Eintreten der von Yubin gelesenen Gefühle.
An dem Tag hatte Yubin Gahyeon belesen. Ich konnte mich genau erinnern. Im Schatten hatte ich gestanden, als sie das von Gahyeons Pflanze zerstörte Mädchen vorbeigetragen hatten. Wie versteinert hatte ich ihre Leiche betrachtet und somit zu spät gemerkt, wie Gahyeon zusammen mit Yubin durch die Tür neben mir gegangen war.
Und ich hörte Yubin lesen. Es breiteten sich keine Bilder vor meinem inneren Auge aus. Nur ein Gefühl der Vergesslichkeit und der Übelkeit.
Sie las Gahyeons Erinnerungen und Gefühle weg. Einfach so. Und ersetzte sie mit einem unerklärbaren Gefühl von leichter Trauer. Dieses verschwand in den Wochen danach langsam, doch meine Erinnerungen taten dies niemals.
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𝘀𝗽𝗿𝗲𝗮𝗱 𝗺𝘆 𝘄𝗶𝗻𝗴𝘀 | dreamcatcher
أدب الهواةEine magische Akademie, weit in den Bergen. Ein Verschwinden. Ein Mord. Und eine Geschichte, die nie zu Ende erzählt wurde.