Kapitel 9.3 - Wir sind eins

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Irrlichter.

Ich musste hier weg.

Jetzt.

Mit einem Ruck riss ich mich von diesem Anblick los und versuchte, diese wunderschöne Melodie aus meinem Kopf zu verbannen, während ich mich umdrehte und rannte. Egal wohin, einfach nur weg. Ohne nachzudenken lief ich immer weiter durch das Unterholz, gehetzt von der Melodie und meinen eigenen Erinnerungen an diese todbringenden Monster.

Denn ich hatte sie schon gesehen, die kläglichen Überreste dessen, was einst ein Mensch und dann ein Opfer der Irrlichter gewesen war: Nur noch eine unkenntliche, mumifizierte Hülle, die in der Kleidung der vermissten Person steckte. Schließlich töteten sie Menschen und Tiere nicht für ihr Fleisch, sondern für ihre Lebensenergie – bis zur allerletzten Sekunde jeder einzelnen Hautzelle.

Doch das Schlimmste war, dass sie nicht jagden, wie Wölfe ihr Wild. Normalerweise rannten ihre Opfer nicht vor ihnen weg, sondern sie taten alles, um zu ihnen hinzukommen. Zu ihnen und der wunderbaren Musik, die sie von sich gaben und die jeden klaren Gedanken vernichtete bis nur noch der eine Wille da war: Den Ursprung dieser Musik zu finden und sich von ihr in einen tiefen, wunderbaren Schlaf führen zu lassen.

So wollte ich nicht enden.

Drei Mal war ich ihnen schon entkommen. Es durfte nicht umsonst gewesen sein.

Ohne anzuhalten und abzuwarten, rannte ich vorwärts. Doch ich kam nicht weit. Das Wasser schnitt mir den Weg und jegliche Fluchtmöglichkeit ab. Mit rasendem Herzen und hektischem Atem starrte ich auf die ruhige, spiegelglatte Oberfläche des Sees hinaus.

Könnte ich nur darin untertauchen – ich war mir fast sicher, dass Irrlichter mit nichts ins Wasser folgen konnten, obwohl sie anscheinend durchaus darüber hinwegflogen. Wie hätten sie sonst hier so plötzlich auftauchen können? Noch immer hörte ich den Gesang, weiter weg als zuvor, aber noch genauso verlockend. Fast wäre ich trotzdem ins Wasser gesprungen – aber ohne fremde Hilfe konnte ich mich nicht verwandeln.

Senga!

Sie riefen mich. Ohne noch einen weiteren Gedanken zu verschwenden, rannte ich wieder los.

Senga!

Leise schluchzte ich auf, als die Verzweiflung über mir zusammenschlug. Trotzdem konnte ich nicht anhalten. Anhalten hieße aufgeben. Noch hatte ich eine Chance. Also hetzte ich die Uferböschung entlang, über eine kleine Wiese, weiter durch niedriges Gebüsch. Da verhedderten sich meine Füße und ich stürzte zu Boden. Der Aufprall presste sämtliche Luft aus meinen Lungen.

Senga!

Da waren sie wieder. Leise schrie ich auf, kniff die Augen zusammen und presste mir zitternd die Hände auf die Ohren. Nichts sehen, nichts hören, nichts sehen, nichts hören, nichts sehen, nichts hören...

Plötzlich legte sich eine warme Hand auf meinen Unterarm und ein vertrauter Geist flutete in den meinen herein, versprach Schutz und Sicherheit, während das Chaos in meinem Kopf sich langsam legte.

Zac. Es war Zac. Irrlichter griffen nicht mehr als eine Person an – und selbst wenn doch, könnte er uns noch immer ins nahe gelegene, sichere Wasser bringen. Schiere Erleichterung überrollte mich bei der Erkenntniss und ich schmiegte mich in seine Arme. Ganz automatisch zog er mich fester an sich, hielt mich und strich mir ohne ein Wort zu sagen über die Haare. Stattdessen spürte ich in unserer Gedankenverbindung einen steten Strom seiner eigenen Ruhe auf mich übergehen bis das Zittern endlich aufhörte und sich meine Gedanken langsam wieder klärten.

Doch noch wollte ich nicht in die Realität zurückkehren. Noch wollte ich ihm die Irrlichter nicht erklären. Oder Dora. Oder meine Angst vor seinen Absichten mit mir. Also blieb ich zusammengerollt in seinen Armen liegen und hoffte einfach, dass der Moment niemals endete.

Des Wassermanns Weib III - verführtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt