Kapitel VI - Das allsehende Auge

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„Hast du es geschafft?"

Die Stimme klang flüsterleise und dennoch erfüllte sie den gesamten Innenraum des Doms. Kalte Schauer durchzuckten meinen gesamten Körper. Ein Schemen schob sich aus der Dunkelheit hinter dem Altar. Jack blieb wie angewurzelt stehen. Seine Knie zitterten.

„Hier." Er hielt der Frau die Haarsträhne entgegen wie einen Schutzschild.

Die Person trat aus den Schatten und ich zuckte zusammen. Im Mondlicht erschien eine Nonne mit unheilverkündendem Gesicht und unbarmherzigen Augen. Ihre Lippen waren eigentümlich blutleer und tiefe Furchen zeichneten ihre Miene.

„Gott segne dich." Mit einer überraschend kraftvollen Handbewegung nahm die Nonne die Haarsträhne aus seiner Hand. Ich war wie hypnotisiert. Ich erkannte sie wieder.

Dieselbe Nonne hatte ich in meiner Vision gesehen.

Hope nahm mich sanft an der Hand und zog mich weiter. Langsam schlichen wir durch die Dunkelheit. Die Nonne wandte sich bereits zum Gehen.

Wir müssen ihr folgen ...

„Wird mir Gott vergeben?", fragte Jack unvermittelt. Die Nonne hielt inne. Ich wechselte einen Blick mit Hope. Das war nicht Teil des Plans.

Die Nonne hob lediglich eine Augenbraue, doch sie verharrte. Jack faltete die Hände vor der Brust wie beim Gebet.

„Wird mir Gott das vergeben, was ich Luna angetan habe?", wiederholte er mit Nachdruck.

Ich sah ihn überrascht an. Er meinte es ernst.

Einen Augenblick lang herrschte Stille. Hope und ich bewegten uns so vorsichtig wie möglich. Wir hatten den Altar schon beinahe erreicht.

„Mach dich nicht lächerlich", entgegnete die Nonne schließlich mit harter Stimme. „Du hast geholfen, einen Fehler zu korrigieren. Das war keine Sünde."

„Das denke ich nicht", erwiderte Jack. „Ich glaube, es war sehr wohl eine Sünde."

Die Nonne setzte zu einer wütenden Erwiderung an, als plötzlich eine tiefe Stimme durch den Dom hallte und mich erstarren ließ. Hope drückte meine Hand.

„Sie sind hier, Schwester Regina", zischte sie.

Ich fuhr herum. Hinter uns stand ein hünenhafter Schatten. Zwei blutleere Augen funkelten in einem unförmigen Gesicht. Die Haut der Gestalt glich einem dampfenden Ascheklumpen.

Schwester Regina stieß Jack unwirsch zur Seite und kam auf uns zu. Sie bleckte die Zähne.

„Versager!", herrschte sie Jack an. „Dafür wirst du ewig brennen!"

Ich wich zurück, als der Schatten nähertrat. Hope schob sich schützend vor mich. Funken tanzten um den schwarzen Mantel.

„Wo ist Chloe?", brachte ich mühsam hervor.

Die blutroten Augen des Schattens funkelten. „Das wirst du bald erfahren."

Hope trat ihm mit gebleckten Zähnen entgegen, als Schwester Regina plötzlich eine Pistole zog und auf Jack richtete. Er erstarrte.

„Kein Kampf in diesen heiligen Hallen", gebot sie mit gefährlich leiser Stimme. „Luna, wenn du Gegenwehr auch nur in Erwägung ziehen solltest, wird dein Freund hier den Preis bezahlen."

Jacks Gesicht war aschfahl. Er musterte mich flehend. Hopes Blick pendelte zwischen dem monströsen Schatten und Schwester Regina hin und her. Ich schluckte.

Bis gestern hätte ich Jack nur allzu gern sterben gesehen. Aber konnte ich das wirklich verantworten?

Hat er das wirklich verdient?

Unsere Blicke kreuzten sich. Der Mond spiegelte sich in seinen Augen wider und verlieh ihnen eine gespenstische Jenseitigkeit.

Dann nahm Jack mir die Entscheidung ab. Mit einem Aufschrei stürzte er sich auf Schwester Regina. Die Nonne war so verblüfft, dass sie abdrückte.

Im selben Moment hüllte Hope den Schatten in eine Flammenwand.

Ich verharrte paralysiert an Ort und Stelle. Unter Jacks Körper funkelte rotes Blut am Boden. Schwester Regina wandte sich um und kam auf mich zu. Ich konnte mich nicht mehr bewegen.

„Lauf!", schrie Hope. „Beeil dich, na los!"

Ich wollte laufen. Ich wollte weg, wollte nur noch weg. Doch eine Flut seltsamer Bilder erstickte meine Gedanken. Meine Füße wollten sich nicht bewegen. Ich erinnerte mich wieder.

Ich konnte erst wieder atmen, als Schwester Regina direkt vor mir stand.

„Mama?", flüsterte ich kraftlos. Dann umhüllte mich gnädige Schwärze.  

Kinder der Hölle - eine LiebesgeschichteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt